Lesereise Nordseekueste
Oslo plante und sich dachte, die Sammlung der Kunsthalle als Leihgabe wäre doch ein prima Gastgeschenk. »Da haben wir gesagt: Selbstverständlich, Herr Ministerpräsident, aber wir wollen bitte Munch.« Und es hat tatsächlich geklappt, wobei die Tatsache, dass just zu der Zeit in Oslo zwei Bilder von Munch gestohlen wurden, darunter »Der Schrei«, sein wohl berühmtestes Werk, für einen zusätzlichen »Werbeeffekt« sorgte – Munch war damals in aller Munde.
So flitzt Eske Nannen über das große Parkett und ist doch froh, wenn sie wieder in Emden ist: »Ich liebe diese Beschaulichkeit.« Wer sich mit ihr in ihrem Büro verabredet, versackt bei der unvermeidlichen Tasse Tee in einer ledernen Sitzgarnitur. Gleich daneben die Kataloge aller bisherigen Ausstellungen – rund zweieinhalb Regalmeter. Das zentrale Möbelstück aber ist ein wuchtiger Schreibtisch: »An dem hat Henri den Stern gemacht.« Denn auch das ist ihr ein Herzensanliegen: das Gedenken an ihren Mann und »Vater des Museums« wachzuhalten. Es kommt vor, dass sie ihre Gesprächspartner ganz unvermittelt fragt: »Und welche Erinnerungen haben Sie an Henri Nannen?«
Beide, Henri und Eske, sind gebürtige Emder. Ihre Familien waren befreundet. Henri lernte Eske einen Tag nach ihrer Geburt kennen. An diesem 5. Januar 1942 nahm er sie das erste Mal auf den Arm, nachdem er, der achtundzwanzigjährige Frontsoldat auf Heimaturlaub, ihrer Mutter im Krankenhaus zur Geburt der Tochter gratuliert hatte. Später trennten sich ihre Wege. Eske Nagel, wie sie damals noch hieß, machte eine Ausbildung zur Industriekauffrau und fuhr zwei Jahre zur See, »eine Weltreise als Zahlmeisters Schreiberin, also nix Hohes«, später dann als Reiseleiterin und auf einem Frachtschiff, »Panama hin und zurück, ich hab noch mein Heuerbuch«. So lernte sie nicht nur die Welt kennen, sondern auch, mit Menschen umzugehen, eine gute Voraussetzung für die spätere Tätigkeit als Vorstandssekretärin bei den Howaldtswerken.
Die Jahre vergingen. Anfang der achtziger Jahre kreuzten sich ihre Wege erneut in Emden. Ihr Vater war schwer erkrankt, Henri Nannen stand der Familie zur Seite. Zu dieser Zeit begannen sie, sich gemeinsam für die Kunst in ihrer Heimatstadt stark zu machen. Im Abstand von nur wenigen Monaten gründeten sie einen Verein zur Erinnerung an den Marinemaler Ludolf Backhuysen, auch er ein Sohn der Stadt, dann die Malschule für Kinder und schließlich die Stiftung Henri Nannen. In die brachte Nannen nicht nur seine umfangreiche Kunstsammlung, sondern sein gesamtes Vermögen ein. Das war 1983 und der erste große Schritt auf dem Weg zur Kunsthalle. Nicht alle Emder waren damals von dieser Idee begeistert, die Stadt litt unter hoher Arbeitslosigkeit. Nannen solle sein Geld lieber den Arbeitslosen geben, meinte manch einer.
Am 3. Oktober 1986 eröffnete Bundespräsident Richard von Weizsäcker die Kunsthalle. Vier Jahre später heiratete Henri Nannen sein »Tütje«. Als er im Oktober 1996 starb, dachten nicht wenige: »Jetzt ist es vorbei mit der Kunsthalle, wer soll das denn machen?« Das denkt heute keiner mehr. Aus der Stiftung Henri Nannen wurde die Stiftung Henri und Eske Nannen. Bereits im Jahre 2000 bedurfte es eines weiteren Zusatzes: »… und Schenkung Otto van de Loo« – der Münchener Galerist hatte sich entschlossen, einen Großteil seiner Sammlung der Kunsthalle anzuvertrauen.
So wuchs der Bestand, auch dank der vielen Förderer. Ein Bild allerdings hat eine ganz eigene Geschichte. Eine Geschichte, die Eske Nannen mit einem scheinbar untrüglichen Gedächtnis für Kleinigkeiten zu erzählen vermag. Es ist die Geschichte des Bildes, das bereits die kleine Marieke erheiterte: »Knabe vor zwei stehenden und einem sitzenden Mädchen« von Otto Müller. Als Student der Kunstgeschichte sieht Henri Nannen dieses Bild 1937 zum ersten Mal: in der Ausstellung »Entartete Kunst« in München. Später verliert sich die Spur des Bildes. 1979 taucht es bei einem Kunsthändler in London wieder auf, dort kann Nannen es für zweihundertsechzigtausend Mark erstehen. Erst Ende 1998, zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, erfährt Eske Nannen, dass dieses Bild früher zur Sammlung des jüdischen Rechtsanwalts Ismar Littmann in Breslau gehört hatte und von der Gestapo konfisziert worden war. Littmann, der sich 1934 das Leben nahm, hatte eine einzigartige Sammlung deutscher expressionistischer Kunst zusammengetragen. Durch den Verkauf der wenigen Bilder, die der Familie
Weitere Kostenlose Bücher