Lesereise Nordseekueste
unterirdische Stollensystem sind heute ein Geheimtipp. Und ein Grund mehr, länger als nur ein paar Stunden auf der Insel zu bleiben.
Rasenmäher mit siebtem Sinn
Warum es gut ist, wenn ein Deichschäfer einfach nur so dasteht
Der Mann ist auf den ersten Blick eine einzige Enttäuschung. Kein Hütestab, kein Hund, nichts. Steht einfach nur da, in Jeans und Hemd, braun gebrannt, und guckt auf seine Herde, dreihundert Mutterschafe mit ihren Lämmern, alle friedlich am Wiederkäuen. So also sieht heutzutage ein Schäfer aus. Dann holt Wilhelm Sassen auch noch sein Handy raus und stimmt mit einem Händler Preise ab. Fehlt nur noch, dass er gleich per GPS den genauen Standort seiner Schafherde lokalisiert. Was in seinem Fall allerdings wenig Sinn machen würde, weil er kein Wanderschäfer ist. Die gibt es an der Küste kaum, sagt Sassen. Sondern nur Deichschäfer, rund sechzig allein in Niedersachsen.
Sassen ist einer der dienstältesten und seit fast einem Vierteljahrhundert dabei. Knapp zweitausend Tiere nennt er sein Eigen, aufgeteilt in drei Herden. Eine davon beobachtet er gerade, in Hilgenriedersiel, etwa auf halber Strecke zwischen Neßmersiel und Norden-Norddeich. Alles ist ruhig. »Das ist das Ideale«, sagt Sassen. Wenn ein Schaf blökt, dann hat es Hunger. Oder ist unzufrieden. Doch dazu haben die Tiere eigentlich keinen Grund. Schließlich haben sie genug Gras vor der Nase, und von einem Hund ist weit und breit nichts zu sehen.
Morgens muss er immer schon früh am Deich sein, sagt Sassen, am besten, bevor die ersten Urlauber kommen. »Sonst kümmert sich wieder jeder Urlauber um jedes Schaf. Der ganze Landkreis Norden wird alarmiert, wenn ein Schaf irgendwie ein Problem hat.« Und wehe, es ist mal wieder ein Tier verendet, weil es zum Beispiel nicht mehr aus einem Graben herausgekommen ist. »Dann rufen sie Gott und die Welt an.« Also ist er spätestens um zehn auf dem Deich. Und guckt: Lässt irgendwo ein Schaf die Ohren hängen? Oder trottet vielleicht mal wieder ein Lamm hinterher? Das nimmt er dann mit nach Hause, in persönliche Obhut.
Ein Mitarbeiter der Deichacht kommt vorbei. Man kennt einander, Sassen hat einen »Pflegevertrag« mit der Deichacht. An einem Gatter fehlt ein Schild, das Hundebesitzern untersagt, den Deich zu betreten, klagt Sassen. »Mookt wi«, sagt der Mann von der Deichacht, geht klar. Auch er weiß: Wenn Schafe einen fremden Hund sehen, suchen sie instinktiv das Weite. Dann ist jede Ordnung in der Herde dahin. Dabei sind Schafe so wichtig für den Deich, quasi Rasenmäher und Rüttelverdichter in einem. Sie halten das Gras kurz und trampeln den Boden fest. So eine Herde, das sind mehrere Tonnen Gewicht, sagt Sassen. Und noch etwas: Wo Schafe sind, durchlöchern auch keine Wühlmäuse oder Maulwürfe den Deich.
Früher war Sassen Berufssoldat. Mit dreiundfünfzig wurde er pensioniert. Sein Vater starb früh, ein Herzinfarkt. Da hat er den Hof geerbt, zusammen mit seiner Mutter. Aber was tun mit so einem Hof? Landwirtschaft ja, Tiere auch, aber welche? Schweine? Zu kostenintensiv. Milchkühe? Auch nicht, »da musst du jeden Morgen und jeden Abend melken«. So blieben am Ende die Schafe übrig. Erst sechzig Tiere, dann achtzig, dann immer mehr. Damals gab es noch zweihundertzwanzig Mark für ein Lamm, »das war sehr einträglich«. Das überschüssige Geld hat er immer wieder in neue Schafe investiert. Doch dann kamen die Einbrüche. Erst Tschernobyl, da gingen die Preise runter, auf etwa hundertvierzig Mark. Dann die Wende, die DDR war ein Eldorado für Schafhalter, sagt Sassen, die LPG s, hoch subventioniert, das wurde alles verschleudert. Da blieben ihm nur noch achtzig, neunzig Mark pro Lamm. Dabei produziert er nicht für den Wochenmarkt um die Ecke. Seine Kunden sitzen vor allem in Frankreich und Holland. »Die wollen ein marktgerechtes Lamm mit dreiundvierzig Kilo, voll ausgereift und möglichst nicht älter als ein halbes Jahr – das ist ein Delikatessenmarkt.«
Wenn Wilhelm Sassen so auf dem Deich steht und auf seine Schafe schaut oder auch mal rüber nach Norderney, dann weiß man nicht, ob er nicht gerade wieder über EU -Förderprämien nachdenkt. Die sind für sein wirtschaftliches Überleben noch wichtiger als die Verkaufserlöse. Früher gab es die Mutterschafprämie, heute eine Flächenprämie. Da zählen die Hektar, wie so oft in der Landwirtschaft. Bis 2013 sind ihm die Prämien sicher, sagt Sassen. Und hofft, dass die Zuschüsse auch danach noch eine Weile
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