Lesereise Nordseekueste
lernt man erst so richtig kennen, wenn man ein paar Tage länger bleibt, genauer: wenn die vielen Tagesgäste die Insel wieder verlassen haben. Wahre Inselfreunde wissen: In der Zeit von zwölf bis sechzehn Uhr macht man am besten einen Mittagsschlaf oder dreht ein paar Runden im Schwimmbad. Oder fährt rüber zur Düne und legt sich an den Strand. Die Düne ist so etwas wie das Naherholungsgebiet des Helgoländers. Mit zwei herrlichen Stränden, deren Existenz sich immer noch nicht so richtig herumgesprochen hat. Tagesgäste verirren sich selten auf die Düne, obwohl die Überfahrt mit der Fähre nur ein paar Minuten dauert. Und so bleiben die Naturfreunde und die der Freikörperkultur weitgehend unter sich und müssen den Strand nur mit den Seerobben teilen, die man hier besser als auf jeder anderen Nordseeinsel beobachten kann. Selbst Kegelrobben dösen am Nord- oder Südstrand, Zivis passen auf, dass niemand stört.
»Was ein Helgoländer ist,
Das ist schwierig zu ergründen
Und mit Logik nur und List
Nach und nach herauszufinden.«
James Krüss
Helgoland ist ein Dorf ohne Nachbargemeinde, da entsteht ein ganz besonderer Menschenschlag. Der »Muster-Helgoländer«, soviel verriet schon James Krüss, macht sich nicht viel aus Orden und Gewändern. Wer die Nase zu hoch trägt, ist ganz fix unten durch. Die Insulaner gelten als wortkarg. Das darf man nicht persönlich nehmen, immerhin laufen im Hochsommer jeden Tag Tausende von Urlaubern vor der Haustür vorbei. Wundern sollte man sich auch nicht, wenn einem der Helgoländer zur Begrüßung nicht gleich die Hand gibt. Er ist es nicht anders gewohnt. Die Hand reicht man sich hier zum Gratulieren und Kondolieren. Und beim »Wünschen« – so wird ein Brauch genannt, bei dem die Helgoländer einander zu Neujahr besuchen. Im Übrigen grüßen sich die Helgoländer kurz und trocken mit »Hallo« und gehen ihrer Wege.
Rund tausendvierhundert Menschen leben dauerhaft auf der Insel, fast alle irgendwie vom Tourismus. Noch jedenfalls. Viele Arbeitsplätze sind gefährdet. Zum Beispiel die der Börteboot-Fahrer. Sie sind mit ihren offenen Nussschalen aus schwerem Eichenholz dafür verantwortlich, dass die Passagiere der Seebäderschiffe, die nicht den Hafen ansteuern, trockenen Fußes an Land kommen – das sogenannte »Ausbooten« ist ein Erlebnis für sich. Doch in den letzten Jahren sind mehrere Seebäderschiffe ausgemustert worden. Die Reeder stöhnen unter den Auflagen der EU . Die weiße Flotte, die vor Helgoland auf Reede liegt – dieses Bild könnte schon bald der Vergangenheit angehören. Der Trend geht hin zu den Katamaranen, die dank ihres geringeren Tiefgangs direkt im Hafen anlegen können. Dass man allerdings eines Tages ins Museum wird müssen, um ein Börteboot zu sehen, das ist für einen richtigen Helgoländer unvorstellbar.
Noch kommen über dreihunderttausend Gäste pro Jahr. Doch die Zahl schrumpfte zeitweise wie Butter in der Helgoländer Mittagssonne, im Laufe nur eines Jahrzehnts hat sie sich fast halbiert. Die Insel muss attraktiver werden, soweit ist man sich einig. Nur wie? Man könnte doch, so der Plan eines findigen Unternehmers aus Hamburg, Sand zwischen dem »roten Felsen« und der Düne aufspülen. Und so die Lücke, die in der Silvesternacht 1720/21 bei einer großen Sturmflut entstanden ist, wieder schließen. Dann, argumentierten die Befürworter, könnten neue Hotels und Geschäfte entstehen und Kreuzfahrtschiffe vor Anker gehen, dann kämen auch wieder mehr Gäste. Monatelang haben sie sich die Köpfe heißgeredet. Und dann abgestimmt. Die Mehrheit der Insulaner sagte Nein. Helgoland bleibt geteilt.
Und doch wird sich die Insel verändern, ja verändern müssen, wie schon so oft in ihrer Geschichte. Wer wissen möchte, wie Helgoland in den Kindertagen von James Krüss ausgesehen hat, der sollte sich die Bilder von Franz Schensky im Inselmuseum ansehen. Schensky hat das Alltagsleben fotografiert, die Menschen, das Meer. Er hielt fest, wie Helgoland zu Kaisers Zeiten aussah und was davon gegen Ende des Zweiten Weltkriegs noch übrig war. Das alte Helgoland ist bei einem Luftangriff am 18. April 1945 dem Erdboden gleichgemacht worden, riesige Krater auf dem Oberland zeugen noch heute davon. Die meisten Helgoländer, unter ihnen James Krüss, überlebten den Angriff im Bunker. Nichts deutet von außen darauf hin, dass dieser mächtige Felsen mitten in der Deutschen Bucht löchrig wie ein Schweizer Käse ist. Die Führungen durch das
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