Lesereise Prag
beglückt wurden, der »größte Tscheche« aller Zeiten gesucht wurde, da wählte das Publikum Karl IV. auf den ersten Rang – vor Tomáš Garrigue Masaryk, dem Begründer der modernen Tschechoslowakei im Jahre 1918, und vor Václav Havel, dem Helden unserer Tage, der als Dramatiker, Dissident und Staatspräsident das Gesicht der Nation zur Jahrtausendwende war.
So viel Geschichtsbewusstsein erklärt, warum auch die Ausstellung auf dem Hradschin im Jahr 2006 so hohen Rang hatte: Es ging um Karl, den Größten. Am Wirken eines mittelalterlichen Kaisers vergewisserte sich im Jahre 16 nach Beginn einer neuen Zeit die Tschechische Republik jener Eigenheiten, die jenseits der unannehmlicheren Epochen liegen, jenseits des Kommunismus, der Nazizeit und jener Habsburger Jahrhunderte, die im Grunde schon nach der Luxemburger Ära begannen, als Kaiser Sigismunds Erbtochter mit Albrecht II. von Habsburg vermählt wurde.
Für Tschechiens Nachbarn hatte das Prager Kulturereignis der Saison den Reiz der Umgewichtung, des neuen Blickes auf diesen Teil des Mittelalters: Deutschland, so wie es später hieß, als Teil eines größeren Verbunds, einer kleinen EU – regiert nicht aus Berlin (haha!) oder Bonn (hahaha!), sondern vom Rande, von Luxemburg und Prag her, die ja nur aus deutscher Binnensicht Peripherie sind. Ein europäischer Blickwinkel öffnet sich, anregend auch für die heutige Betrachtung des neu sich ordnenden Kontinents.
Verzückungen, Verzerrungen
Metamorphosen einer Metropole: Wie Prag sich in die kapitalistische Gegenwart katapultiert hat
Prag ist alt, sehr alt. Und Prag ist neu, sehr neu. Prag ist so alt, dass im März 2008 schon der sechshundertsechzigste Jahrestag der Gründung der Prager Neustadt begangen werden konnte, natürlich in historischen Kostümen. Auf dem Obstmarkt war eine Bühne aufgebaut, Kaiser Karl IV., mit Krone und Bart, ließ Gaukler, Vaganten und Schwertkämpfer auftreten, dazu wurde getrommelt und gefiedelt. Des Kaisers Herold trug ein Headset-Mikro, damit man ihn besser verstand, und von einer rückwärtig aufgeschlagenen Fettwurstbraterei zog Qualm zur benachbarten Shopping-Galerie hinüber, in welcher einsam eine Rolltreppe lief.
Karl IV. ritt auf weißem Ross durch die Stadt, und Petr Hejma, der Bürgermeister des Stadtbezirks Prag 1, ließ sich im Gewand eines Goldschmiedemeisters in einen Eisenkorb stecken und in die kalte Moldau tauchen. So hart wurden 1348 unehrliche Kaufleute bestraft, und so hart kämpft man heute in Prag um Popularität. Pavel Bém, der Oberbürgermeister, war nicht dabei, der war damals noch so beliebt, dass er sowas nicht mehr brauchte.
In Prag war Frühling, und das ist die Jahreszeit, die dieser Stadt am besten steht. Im Sommer hängt der Bierschweiß in den Straßenbahnen, im Herbst quält der Smog die Bronchien, im Winter kommt man vor den Karpfenbottichen ins Rutschen oder geht in der touristischen Silvesterflut verloren. Aber im Frühling ist die Stadt voller Hoffnung und Musik. Es zwitschert in den Parks und Gärten, die Sträucher blühen, und auch der Schnee am Gründonnerstag hält die neue Jahreszeit nicht auf. Am Altstädter Ring, dem zentralen Platz der Stadt, konnte man in jenem Frühling 2008 einen riesigen Kran beobachten, der drei neue Glocken ins Turmgestühl der Teynkirche hob. Prag war nach einem langen Winter zu neuem Leben erwacht, sogar die Renovierung der Karlsbrücke hatte endlich begonnen.
Der Winter dauerte fast zwei Drittel des ganzen 20. Jahrhunderts lang, doch jetzt, zwei Jahrzehnte nach der »Samtenen Revolution« und dem Zusammenbruch des Kommunismus, ist er wie weggeblasen. Der Aufbruch, der schon in den neunziger Jahren in Gang kam, beschleunigt sich von Tag zu Tag und erreicht immer neue Dimensionen. Wann drehten sich hier je so viele Kräne, wann kamen je so viele Fremde her, wann wurde so viel Geld bewegt und verdient? Wann war zuletzt so viel Gedränge in der Stadt und so viel Glanz auf den erneuerten Fassaden?
Es muss vor dem Kommunismus gewesen sein, nein, früher noch, vor der Nazizeit und nach dem Kollaps der Habsburger Monarchie. Also in der Ersten Tschechoslowakischen Republik, als Prag gerade wieder stolze Hauptstadt geworden war. »Ja, ich stimme zu«, sagte Pavel Bém, das 2010 abgewählte Stadtoberhaupt, »die Entwicklung ist außerordentlich schnell.« Prag hat 2007 zum ersten Mal in seiner Geschichte die Zahl von 1,2 Millionen Einwohnern überschritten.
Prag boomt, Prag baut, Prag bäumt sich förmlich
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