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Lesereise Prag

Lesereise Prag

Titel: Lesereise Prag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Brill
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Teleobjektiv baut sein Stativ auf. Da bricht aus der Altstadt eine Horde junger Briten hervor. Sie haben getrunken in dieser Nacht, nun schwanken und schreien sie und nehmen die Brücke auf ganzer Breite ein. Schon öfter ist es vorgekommen, dass sich junge Männer bei solchen Umzügen an den dreißig Statuen zu schaffen machten. Nasenspitzen wurden abgehackt, ein Engel kam abhanden, von einem Kruzifix verschwanden Teile einer dreihundertjährigen hebräischen Buchstabenschrift. Taucher der Polizei suchten vier Wochen lang am Grund der Moldau im Schlamm, sie förderten die Buchstabenschrift wieder zutage – und vieles andere, was in Jahrzehnten über die Brüstung gegangen war. Seit einiger Zeit sind unauffällig zehn Überwachungskameras angebracht, mit deren Hilfe die Polizei den Vandalen beizukommen hofft.
    Übernächtigte Touristen mischen sich jetzt mit einheimischen Frühaufstehern, junge Leute halten einander mit dem Fotohandy im Frühlicht fest. Und plötzlich, um zehn vor sechs, steht diese knallblonde junge Dame mit dem Pelzjäckchen und den langen schwarzen Strümpfen vor einem der Brückenheiligen. Ein Fotograf sitzt schon vor ihr auf dem Boden, zwischen den Shootings hantiert ein Friseur an ihrer wallenden Popfrisur herum. Daneben steht eine junge Dame, offenbar die Stylistin. Sie führt einen großen Rollkoffer mit, aus dem sie später andere Kleidungsstücke entnimmt.
    Die Karlsbrücke und die Models – es scheint eine feste Liaison zu sein. Einer der drei jungen Holländer, die vorhin aus der Disco kamen und jetzt hinter zwei fremden Girls herziehen, will mit aufs Bild. Aber für solche Scherze hat der Fotograf nichts übrig. Das Model hüpft leichtfüßig herum und verliert dabei einen hochhackigen Schuh, dieweil der Knipser auf Englisch über diese Leichtigkeit jubelt. Auf einem Altstadtturm bimmelt eine Glocke, und von der Kleinseite her schleppen zwei Bauarbeiter einen langen Schlauch und eine Pumpe heran. Eine Frau ist jetzt noch mit der Kamera aufgetaucht, Prag im Morgenlicht. Es scheint, als hätte die Karlsbrücke eine ruhige Nacht gehabt.

Kaiser Karl der Größte
Warum die Tschechen den Schöpfer des goldenen Prag so lieben
    Von all den Wohltaten, mit denen Kaiser Karl IV. einst die Bewohner seiner Heimatstadt Prag und seines angestammten Königreichs Böhmen bedachte, sind der Veitsdom, das alte Hradschin-Palais, die Karlsbrücke, die Karlsuniversität und (das) Karlsbad sicher die bekanntesten. Bei den Tschechen hat einen großen und dauerhaften Eindruck aber auch jene Passage aus seiner Autobiografie hinterlassen, in der er von der Heimkehr an die Moldau im Jahre 1333 berichtet.
    Der siebzehnjährige Sohn des Herzogs Johann von Luxemburg und der tschechischen Königstochter Eliška Přemyslovna, der Erbin der Přemysliden-Dynastie, war vierzehn Jahre abwesend gewesen. Als Dreijährigen hatte ihn der Vater der Mutter weggenommen, zwei Monate in Dunkelhaft gehalten und dann zur Erziehung an den Hof in Paris gebracht. König Charles IV., sein Pate, gab ihm dort nicht nur einen späteren Papst als Erzieher und eine Verwandte zur Ehefrau, sondern auch den eigenen Namen: Karl, in Böhmen Karel, hieß ursprünglich Václav (Wenzel), nach jenem Ahnherrn, der schon damals zum böhmischen Nationalheiligen avanciert war.
    1333 hatte Karl schon einen Feldzug in Italien, einen Giftanschlag und einschneidende religiöse Erweckungserlebnisse hinter sich, als er im verwahrlosten Böhmen ankam. »Wir trafen weder Vater noch Mutter noch Bruder noch Schwestern noch sonst einen Bekannten an«, schrieb er. »Auch die böhmische Sprache hatten wir völlig vergessen, lernten sie jedoch nachher wieder, so dass wir sie wie jeder andere Böhme redeten und verstanden.« Karl beherrschte auch Latein, Französisch, Deutsch und Italienisch, und er besuchte damals nach Ankunft in Prag als Erstes im Zisterzienserkloster Zbraslav (Königsaal), der Grablege der Přemysliden, die letzte Ruhestätte seiner Mutter.
    Wenn nun für eine Ausstellung unter dem Titel »Karl IV. – Kaiser von Gottes Gnaden« just aus diesem Kloster Zbraslav ein kostbares Madonnenbild entliehen und auf Plakaten wie Broschüren als Titelikone herausgestellt wird, so hat dies also seine tiefere Bedeutung. Zumal es sich bei dem Gemälde, das auf 1345–1350 datiert wird, womöglich um ein Geschenk von Karl IV. selber handelt. Maria mit Doppelkrone, tiefblauem Mantel, weißem Schleier, den durchsichtig umhüllten Jesusknaben auf dem Arm – alleine

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