Lesereise Prag
auf in einem Kraftakt, der im Zeitraffer den Rückstand der kommunistischen Ära aufholen soll und deshalb mit ebenso vielen Verzerrungen wie Verzückungen verbunden ist. »Andere europäische Hauptstädte«, sagte Bém, »hatten zig Jahre, die Probleme im vergangenen Jahrhundert zu lösen, wir haben nur Jahre, aber glücklicherweise sind wir erfolgreich damit.«
Tatsächlich ist der Wandel an jeder Ecke zu greifen. Wer nur ein paar Tage kreuz und quer durch die Stadt geht, hier Fragen stellt und dort Erzählungen lauscht, wird schnell zum Zeugen einer Metamorphose, die als herausragendes Beispiel für den Wandel in ganz Mittel- und Osteuropa taugt. Vor der Wende von 1989 war Prag »eine graue Stadt ohne Leben«, sagt Václav Matula, »eine Stadt, die im Sterben lag«. Der promovierte Linguist ist zusammen mit dem Betriebswirt Jiří Černý Inhaber der Reiseagentur Premiant City Tour, die 1992 mit drei Leuten begann und heute mehr als fünfzig Mitarbeiter hat. Beim Gang durch die Pflastergassen der historischen Kleinseite erinnern sie sich an die Gerüste, die hier vor bröckelnden Häusern einst so lange standen, dass schon Gras und Gesträuch darauf wuchsen.
Alles weg, alles restauriert, nur hier und da vermittelt noch ein Nachzügler, ein unerlöstes Haus, einen Eindruck von einstiger Schäbigkeit. In solchen Fällen erhalten die Besitzer eine Mahnung von der Stadt. Ansonsten sind Hunderte kleiner Kneipen, Geschäfte und Souvenirshops in Gewölben zu finden, die früher verstaubte Gelasse waren, »da standen drei Eimer und sieben Besen drin«, wie Jiří Černý sagt. Das »Kleinseitner Restaurant«, in das wir uns zum Bier hocken, war ein Gemüseladen, der nur Kartoffeln und Karotten anbot. »Die Stadt blüht jetzt auf«, meint Matula. Und sie ist, im historischen Zentrum, wieder wunderschön. Auferstanden in den ewigen Formen von Gotik, Renaissance und Barock, ein Juwel auf der UNESCO -Liste des Weltkulturerbes. Einerseits.
Andererseits gab es Kritik daran, wie in manchen Fällen restauriert wurde. Der Verein »Für das alte Prag«, mehr als hundert Jahre schon aktiv, bilanzierte 2005, es habe auch Schlampereien und Deformationen gegeben; so seien Hunderte historischer Dachstühle zerstört worden. Ein besonderes Ärgernis: Das Parlament der Nation baute das Kinsky-Palais auf der Kleinseite zur Wohnanlage für Abgeordnete aus, und trotz empörter Proteste wurden alle archäologischen Bodenfunde für eine Tiefgarage geopfert.
Auch andere Immobilien entfachten Dispute darüber, wie stark das schöne alte Prag und seine neue Nutzung miteinander harmonieren oder kontrastieren sollten. Das Kaffeehaus am Kleinseitner Ring zum Beispiel war einst eine Legende. Es trug den Namen des Feldmarschalls Radetzky, dessen Standbild auf dem Platz stand. Operndiven und Schriftsteller verkehrten hier. Nach 1918 nannte es sich Kleinseitner Café, man saß hier im »Salon von Prag«, und noch vor zwanzig Jahren gab es Gäste, die schon fünfzig Jahre Stammgäste waren. 2002 machte ein West-Investor einen cool-coolen Designer-Schmarren namens Square daraus und offerierte Tapas, meist war es leer. Anfang 2008 zog Starbucks ein, jetzt kuschelt man sich auf Ami-Art ins knautschige Polster, bei Caffè Latte und Brownie, wie in fünfzehntausend Starbucks-Läden überall in der Welt. Guidebook-Leserinnen und Blackberry-Mail-Abfrager verkehren jetzt hier, es ist fast immer voll.
Natürlich, auch Prag ist in den Sog der Globalisierung geraten, und wie! Auch Prag ist seit 1990 mit Super- und Hypermärkten von internationaler Austauschbarkeit bestückt worden. Der Stadtteil Smíchov zum Beispiel, ein altes Fabrik- und Arbeiterviertel, wird heute von einem Einkaufszentrum dominiert. Und in der Altstadt hat 2007 ein megamodernes Shopping-Paradies namens Palladium eröffnet, das in einer aufgeflotteten Kaserne hundertsiebzig Läden und dreißig Restaurants präsentiert, darunter zwei weitere Starbucks.
Prag ist eine Kapitale des Konsums geworden, die Einkaufsstraße Na Přikopě (Am Graben) zählt schon zu den zwanzig teuersten der Welt. Große Ketten machen sich breit, es gibt die ersten Luxuswohnanlagen. Die Kaufkraft steigt, wenn auch bei Weitem nicht so stark wie die Immobilienpreise, und es herrscht Vollbeschäftigung. »Man sucht laufend nach Mitarbeitern in allen Bereichen«, sagt Bernard Bauer, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Deutsch-Tschechischen Industrie- und Handelskammer. Internationale Konzerne haben die Metropole
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