Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lesereise Prag

Lesereise Prag

Titel: Lesereise Prag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Brill
Vom Netzwerk:
Zeitpunkt gelegt, am 9. Juli 1357, morgens um 5.31 Uhr. Sechzehn mächtige Bögen überspannten später den Strom, und die fünfzehn ebenso mächtigen Pfeiler krönte man nach und nach auf beiden Seiten mit dreißig Skulpturen; die bekannteste ist die Bronzestatue des heiligen Nepomuk, von Passanten so sehr abgegriffen, dass sie an zwei Stellen schon ganz blank ist.
    Bedenklicher ist, was in sechseinhalb Jahrhunderten die Wasser der Moldau dem Bauwerk angetan haben. Schon früher wurden Sicherungsarbeiten ausgeführt, so nach einer Überschwemmung im Jahre 1890. Im Jahr 2007 aber hielt man eine gründliche Abdichtung der Fundamente und eine Erneuerung jener Wasserteiler für geboten, die dem Schutz der Pfeiler dienen. Auch schadhafte Steine wurden ausgetauscht, doch hatten es die Bauarbeiter übertrieben eilig, rund zweihundertvierzig alte Quader zu zerstören. Krass stechen nun die neuen Steine durch ihre helle Farbe hervor, auch die neue Pflasterung, mit Beton unterfüttert, mutet alles andere als historisch an. Bauhistoriker und Bürgerinitiativen schlugen Alarm, im Frühjahr 2010 verhängte die zuständige Obere Denkmalschutzbehörde in Pilsen eine Geldbuße von umgerechnet hundertdreißigtausend Euro gegen das Prager Bauamt, weil bei der Renovierung schwere Fehler gemacht worden seien: »Die traditionellen Methoden des Steinmetzhandwerks wurden nicht respektiert.« Auch habe man den falschen Mörtel verwendet und die alten Steine mit dem gleichen Kitt verfugt, der bei der Sanierung von Plattenbauten Verwendung finde, zürnte die Behörde.
    Ein Skandal, der die Besucher kaum erreicht, schon gar nicht in der Nacht. Wenn es dunkel wird, gehört die Karlsbrücke auf all ihren fünfhundert Metern den Träumern und den Nachtschwärmern, die in der Altstadt oder auf der Kleinseite noch eine Pflastergasse, eine Bierkneipe oder einen Nachtclub suchen. Gleich neben dem Altstädter Brückenturm ist Mitteleuropas größter Musikclub zu finden, der sich um Mitternacht allmählich füllt. Junge Leute stehen Schlange und lassen sich von schwarz gekleideten Türstehern den Körper abtasten oder die Handtaschen kontrollieren. Eine weitere Disco liegt direkt am Moldauufer und sendet aus ihren hohen Fenstern bunte Blitze und wummernde Bässe zur Brücke hinauf. Bedřich Smetana schweigt dazu, die Statue des Komponisten ist von Liebespaaren umlagert. In dieser lauschigen Uferzone befindet sich auch eine Dependance des Tschechischen Nationalmuseums für Musik.
    Aber weder Smetanas vaterländische Moldauklänge noch das Dröhnen der Disco geben den Nächten auf der Karlsbrücke ihr akustisches Gepräge, sondern der Fluss ist es selbst. Ein Wehr zwingt ihn in unmittelbarer Nähe zum Fall, und so ist Tag und Nacht ein gleichmäßiges Rauschen zu hören, das fast alle anderen Geräusche der Stadt übertönt. Nur die Glocken nicht, die von den Türmen die Stunde schlagen, und nicht die Möwen, die um die Pfeiler kreischen.
    Je später es wird, desto größer werden die Abstände zwischen den Menschen, die jetzt noch über die Brücke wollen. Junge Paare auf dem Heimweg ins Hotel, einsame Fotografen, die das Bauwerk im Schatten fliehender Wolken erleben wollen. Prag leuchtet derweil, viele Kirchen und Paläste sind bis ein Uhr angestrahlt, manche bis in den Morgen. Das Brautpaar sucht neue Posen, ein Obdachloser, unrasiert, mit einer Tüte in der Hand, schlurft vorbei. Und hinter dem Altstädter Brückenturm, am Museum für mittelalterliche Folterinstrumente, schlägt ein Betrunkener sein Wasser ab. Unter einer Statue setzen zwei Herren im Anzug auf Französisch eine angeregte Diskussion fort, die vielleicht in einem guten Restaurant begann.
    Irgendwann spürt man: Die Nacht hat umgeschlagen, der Morgen gewinnt die Oberhand. In den Kastanien am Kleinseitner Ufer erwachen die Vögel, ein Fiepen und Tschilpen setzt ein, und bald nachdem der Horizont sich erhellt hat, erlöschen am Ufer die Laternen. Es ist fünf Uhr geworden. Am Kleinseitner Ring sind die ersten Straßenbahnen zu hören, ein Lieferwagen ist am Ufer eingetroffen. Der Fahrer versendet bei offener Tür auf dem Handy seine ersten SMS . Aus dem Container auf der Brückenbaustelle treten zwei schwarz gekleidete Baustellenwächter hervor.
    So kreuzen sich der alte und der neue Tag. Schnellen Schrittes kommen Frauen in Bürokostümen herbei, die von Stadtteil zu Stadtteil zur Arbeit eilen. Männer mit Aktentaschen sind schon rasiert, ein Fotograf mit schwerer Schultertasche und

Weitere Kostenlose Bücher