Lesereise Rom
U-Bahnen provoziert ein Übermaß an Staus, drum wird, wer nur ein bisschen außerhalb des Zentrums wohnt und etwas in der Stadt zu erledigen hat, auf harte Geduldsproben gestellt. Die Bürokratie trägt ihren Teil dazu bei.
Man will zum Beispiel an einem harmlosen Vormittag eine harmlose Telefonrechnung bezahlen. Mit dem Auto in die Innenstadt zu fahren, wäre zwecklos, denn man brauchte erstens eine Sondererlaubnis für das centro und fände zweitens dort keinen Parkplatz. Also wartet man auf den Bus. Erst kommt er lange nicht, dann treffen hintereinander zwei Busse derselben Linie ein, wahrscheinlich haben die Fahrer wieder an der Endhaltestelle ewig miteinander geschwatzt. Der Anschlussbus ist überfüllt, das Gedränge atemberaubend, man muss auf Geldbörsen und Handtaschen achtgeben.
In der Bank steht man erst einmal Schlange. In römischen Banken ist grundsätzlich nur ein Teil der Schalter geöffnet, und meist sitzen hinter anderen Schaltern Angestellte, die Formulare ausfüllen, ihre Fingernägel anschauen oder mit irgendjemandem telefonieren ( »Ciao, Mario!« ). Nur in Ausnahmefällen braucht man weniger als eine halbe Stunde, um Geld abzuheben. Die Telefonrechnung bezahlt man auf der Post, weil die Bank dafür fast drei Euro an Gebühr verlangt, die Post aber nur fünfzig Cent. Das Abbuchungsverfahren ist nicht üblich, und es gibt Leute, die behaupten, das Bankwesen habe in Italien, wo es im Mittelalter erfunden wurde, damals besser funktioniert als heute.
Auch auf der Post steht man Schlange, auch dort sind grundsätzlich nicht alle Schalter geöffnet, auch dort drängt sich grundsätzlich irgendein Mensch unter irgendeinem Vorwand an der Schlange vorbei zum Schalterbeamten ( »Ciao, Mario!« ), und oft ist er erfolgreich. Kurzum: Am Ende hat man mehr als einen halben Vormittag gebraucht, um die Telefonrechnung zu begleichen. Und wohnt man weiter draußen, in den gesichtslosen neueren Vierteln an der Peripherie, dann geht mit einer Besorgung in der Innenstadt der Vormittag ganz drauf.
Ob man auch in der römischen Peripherie gut lebt, ist so eine Frage. Die meisten dieser Vorstädte sind in den hohen Zeiten der Korruption und der Grundstücksschiebereien entstanden, oftmals schwarz gebaut von skrupellosen Unternehmern, die politische Rückendeckung hatten. Es fehlen Plätze, Geschäfte, Restaurants und Busanschlüsse, erst in den neunziger Jahren stellte die von dem jungen Bürgermeister Francesco Rutelli, einem Grünen, angeführte Stadtregierung einen umfassenden Plan zur Verbesserung der Lebensqualität in diesen Randzonen auf.
Es gibt genügend Menschen, die in Rom leiden, und nicht zuletzt der Papst klagt darüber Jahr für Jahr. Auf etwa zweitausendvierhundert bis viertausend schätzt die städtische Caritas die Zahl der Obdachlosen, die auf der Straße leben. Rund fünfundachtzigtausend Frauen und Männer sind Opfer von Wucherern, die zu abenteuerlich hohen Zinsen Geld verleihen und mit brutalsten Methoden ihre Profite eintreiben. Es gibt Armut in Rom, nur die wenigsten Menschen wohnen in jenen prachtvollen Stadtpalästen, in denen auf ein hohes Stockwerk (für die Herrschaft) je ein niedriges (für die Dienerschaft) folgt.
In der Zeitung liest man gelegentlich Meldungen wie die von jenem jungen Mann, der wegen eines Raubüberfalls zu Hausarrest verurteilt wurde und darum bat, die Strafe im Gefängnis absitzen zu dürfen – die Wohnung der Familie sei zu eng. Und am Trevibrunnen erwischte die Polizei im September 1997 eine Frau, als sie mit einem Magneten in einem Nylonstrumpf nach den Münzen fischte, die die Touristen dort hineinwerfen. Die Sechsundvierzigjährige erklärte, sie brauche das Geld, um ihren Kindern etwas zu essen zu kochen. Worauf die Polizisten im Polizeirevier eine Sammlung veranstalteten, um ihr ein warmes Essen zu kaufen. Auch das ist Rom.
Wer aus Europas Mitte oder Norden herkommt, um die Stadt zu besuchen oder ein paar Jahre hier zu leben, trifft auf eine Gesellschaft, deren öffentliche Institutionen mitunter versagen, und zwar total. Der Dienstweg ist in Rom der längste Weg, wer ohne persönliche Kontakte auszukommen hofft, der wartet oft vergebens. Es gibt abenteuerliche Fälle von Pfründen- und Vetternwirtschaft und von Behördenschlamperei, und es gibt Pläne für das Einschalten der Heizungen im Herbst und Winter unabhängig davon, welche Temperaturen herrschen. Jahrelang lässt ein Hausbesitzer die Dachterrasse nicht reparieren, obwohl im darunterliegenden
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