Lesereise Rom
Bestellungen der Schwiegersöhne lauthals zu memorieren, und Zamir ist der Einzige, der an die Töpfe darf. Denn eigentlich herrscht Anna dort allein und unumschränkt. »Ich muss frei sein können«, sagt sie. Als sie vor dreißig Jahren ihre Tochter Rossana gebar, stand Anna noch am Abend vor der Entbindung am Herd – und am Tag danach schon wieder.
Die Köchin blüht geradezu auf im Stress, nie würde man vermuten, dass sie einmal wegen Herzbeschwerden sieben Jahre ausgesetzt hat; damals war der Pommidorovermietet und verkam. Heute zeigt nur ein Furunkel an Annas Stirn, wie Stress verwunden kann, wenn die Stunde der größten Anstrengung gekommen ist. Abends gegen zehn, wenn im Hauptlokal, im Keller und auf der piazza kein Stuhl mehr frei ist; wenn der Hunger der Erwartungsvollen wie eine Brandung an den spiegelblanken Küchentisch heranrollt; wenn jeder an jedem Tisch eine andere pasta bestellt – dann ballt sich die Anspannung, erzittert die Küche im schöpferischen Chaos. Dann kommt es vor, dass für den Bruchteil einer Minute neun Menschen gleichzeitig den Raum zwischen Eingang, Spüle, Herd und Kühlschränken füllen; dass Valentino Brot schneidet und Amedeo mit blanker Hand Salat mischt; dass Ardian Öl zapft und Zamir Teller in den Lift zum Keller schiebt; dass Mario nach Gläsern klaubt, Livio nach Rouladen ruft und Toni vor dem Ventilator Kühlung sucht; dass Aldo Schwertfisch zerteilt und Anna mit dem Dreizack im grünen sugo rührt, dessen Rezept sie nicht verrät.
Wer da die verwegene Idee hatte, man könnte als Reporter einmal mitarbeiten in dieser Küche, Auberginen schneiden und Zucchiniblüten putzen, der kapiert rasch, wie sehr dies eingreifen würde in die Rhythmen einer eingeübten Gemeinschaft, deren aufgepeitschte Energien sich ständig neu zu einem neuen Wimmelbild zusammenfügen. Es ist schon aufregend genug, mitschwitzend ein paar Tage zwischen Abfalltonne und Küchenwaage auszuharren und hineinzusehen in das bebende Universum. »Schau hier, zum Kosten«, ruft Anna und reicht tagliolini mit Tintenfisch- Sugo herüber. Und danach fettucine mit Gemüsesauce. Und eine Gabel Rindsgeschnetzeltes. Und Wildschwein. Und Bries. Und Kutteln. O Santa Trattoria, schön ist dieses Leben, doch es ist auch hart.
Sie wissen es. Ja, »es ist ein zu großes Opfer«, sagt Mario, als sich nach Mitternacht die Kellner und die Küchenhelfer mit bucatini all’amatriciana zum Essen setzen. Schichtarbeit heißt Verzicht, wer im Restaurant beschäftigt ist, kommt nicht ins Kino, geht nicht aus, sieht selten einmal fern. »Es fehlt die Freiheit«, hat Anna gesagt, als sie und Aldo nach der Mittagsschlacht draußen unterm Sonnenschirm mit dem jungen Paar aus Neapel plauderten. Ach, Neapel. Ein einziges Mal war Anna dort, auf der Hochzeitsreise. Von Rom, der Stadt, in der sie lebt, hat sie weniger gesehen als ein Drei-Tage-Tourist, »das tut mir weh«. Im Petersdom war sie zuletzt als Fünfzehnjährige. Nie in der Oper, nie französisch gegessen, »und vielleicht bin ich die einzige Frau, die nie ein langes Kleid angezogen hat, um auf ein Fest zu gehen«, sagt Anna.
Dennoch nimmt sie wie Aldo und die anderen teil an Geselligkeiten, um die mancher sie beneidet. Immer war der Pommidoroein Lokal, in dem alle Klassen willkommen waren, die Arbeiter des Viertels, die Professoren der nahen Universität, die Künstler aus dem Atelierhaus gegenüber. Im Pommidoroisst Ceccio, der Anstreicher, der mal im Gefängnis Regina Coeli einsaß, so gut wie Angelo, der Biologieprofessor, und Claudio, der Fotograf. Alles Freunde, amici . Nette Gäste gehören bald zur Familie, wie Christian, der Münchner Fotograf vom Atelierhaus drüben, der sogar nach Mitternacht noch zu essen bekommt.
Sind die Bestellungen verebbt und die Gasflammen herabgedreht, hocken Anna und Aldo sich hinaus vor die Tür oder zu den Freunden an den Tisch. Jeder Tag bringt Begegnungen, Wiedersehn mit den amici , die sich für Annas Tafelfreuden mit Gefälligkeiten revanchieren. Wie viele amici haben sich nicht eingesetzt, um den zuständigen Dezernenten der Stadt zu überzeugen, dass Aldo nun endlich die Genehmigung für eine wetterfeste Überdachung der Lokalfläche auf der piazza braucht! Und wie hat erst der amico Medizinprofessor geholfen, der gestern in die Küche kam und Anna begrüßte. Heute Mittag hat er ihr einen Klinik-Termin freigehalten, um ihr Bandscheibenleiden zu untersuchen und ein Pflaster aufzukleben, umsonst und blitzesschnell, weil Anna
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