Lesereise Rom
Organisationen. Ihr Sitz befindet sich hinter dem Annen-Tor in der Via del Pellegrino, und im Erdgeschoss trifft man auch auf eine Amtsstube, in der man mittels Antragsformular für katholische Verwandte oder Freunde den Apostolischen Segen des Papstes bestellen kann, aus Anlass einer Hochzeit oder eines runden Geburtstags zum Beispiel. Der Beschenkte erhält eine Pergamenturkunde, auf der in Schönschrift der Segensgruß und sein Name eingetragen sind. An einer Pinnwand sind insgesamt vierzig verschiedene Modelle zur Auswahl ausgehängt, zum Preise von etwa drei bis zwanzig Euro; der Erlös ist für die Armen bestimmt. Es herrscht reger Betrieb, am Tag werden im Schnitt mehr als zweihundert solche Papstsegen ausgegeben.
Im Zwielicht zwischen Päpsten und Paten
Andreotti – rechtschaffener Römer oder Mordgehilfe der Mafia?
Andreotti betend, weltentrückt in sich versenkt – das Bild ist derart einprägsam, dass man sich den anderen Andreotti, den die Zeitungen unverfroren Beelzebub nennen und mit wild aufgerissenen Augen abbilden, daneben nicht recht vorstellen kann. Der Freund der Päpste soll auch Freund der Drogenbosse sein? Don Canciani kennt ihn anders, hat ihn oft und oft in der Messe beobachtet, wie er unbeweglich mit gekrümmtem Rücken in der Kirchenbank verharrte, hat ihm die Kommunion gespendet und die Beichte abgenommen. Und so einer soll sich gemein gemacht haben mit Mördern, soll mit dem Bösesten der Bösen den Freundschaftskuss getauscht haben? »Was für Küsse denn«, erregt sich Don Canciani, »Andreotti küsst doch nicht einmal seine eigenen Familienangehörigen.«
Andreotti wohnt mit seiner Frau unweit des Tibers in der Altstadt von Rom, zwischen jenen Polen, die sein Leben prägten. Keine zehn Minuten läuft man zum Vatikan, in der Gegenrichtung ist es nicht viel weiter bis zum Parlament und zum Amtssitz des Ministerpräsidenten. Um die Ecke, am Ende der Via Giulia, liegt San Giovanni Battista dei Fiorentini, die Kirche, in der Don Mario Canciani der Pfarrer ist. An Sonn- und Feiertagen trägt hier Andreotti manchmal vom Altar die Lesungen aus dem Evangelium vor.
Giulio Andreotti ist ein frommer Katholik. Den täglichen Messgang hat er sich nicht erst als Greis angewöhnt, sondern schon als Jugendlicher. Auf Staatsbesuchen pflegte er früher darauf zu achten, dass auch in gedrängtesten Programmen Zeit blieb für den Frühgottesdienst. Von Gott und Religion zu reden, ist ihm etwas Selbstverständliches. »Vor Gott bin ich unschuldig«, hat er gesagt. Oder: »Vielleicht war ich zu sehr an ein Leben voller Ehrungen gewohnt, und ein bisschen Asche auf mein Haupt tut mir jetzt gut.«
Man könnte solche Bemerkungen leichthin beiseite schieben, wären sie von erheucheltem Pathos durchtränkt. Aber Andreotti äußert und bewegt sich auch in diesen Jahren seiner schwersten Krise in jener ungekünstelten, fast spröden Art, die er als ererbten Charakterzug des Römers ansieht und die ihn so unergründlich und so unbeirrbar erscheinen lässt. Die Faszination seiner Persönlichkeit ist ebenso ungebrochen wie sein Kampfesmut. Darum hatte sich Italien, hatte sich die Welt auf Widersprüchlichkeiten und Unvereinbarkeiten ohne jedes Maß einzulassen, als dieser außerordentliche Mann in Palermo und in Perugia vor Gericht gestellt wurde.
Man hat das Verfahren als Prozess des Jahrhunderts bezeichnet, und man kann derlei Superlative mehr aufhäufen. Der Fall kennt keine Parallelen. Wo sonst ist ein Politiker in fast fünf Jahrzehnten einundzwanzigmal Minister und siebenmal Ministerpräsident gewesen, um dann am Ende mit der Aussicht konfrontiert zu werden, seine beispiellose Karriere im Zuchthaus zu beschließen? Wo sonst hätte ein Staatsmann in aller Welt Präsidenten, Kanzler, Parteichefs, Boschafter, Generäle und Kardinäle getroffen und sich dann im Ruhestand als Mafioso und Auftraggeber eines Mordes bezichtigen lassen müssen?
Andreotti war jahrzehntelang Italiens bekanntester Politiker und einer der mächtigsten dazu. In seiner sanft gebuckelten Gestalt verkörperte sich nachgerade eine Epoche, jene lange Nachkriegszeit, die 1992 in Schande kollabierte. »König Giulio« war eine so sehr kenntliche Erscheinung, dass die Zeitungen ihn von hinten abbilden konnten, den Kopf in die Schultern geduckt, die Ohren abgewinkelt. Er imponierte mit unverwüstlicher Schlagfertigkeit, unvergessen ist sein Bonmot: »Die Macht verschleißt nur den, der sie nicht hat.« Andreotti war der Hauptdarsteller eines
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