Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End
das zu einer Zeit, da ein ganzes Drittel der steuerzahlenden Bevölkerung unter einem Jahreslohn von einem Pfund blieb.
Fast flüsternd weisen die Besucher einander auf die Fingerzeige an den Wänden hin und haben Mühe, Heinrichs Ehen wenigstens im Abzählvers zu überblicken: »Bluff Henry the Eighth to six spouses was wedded:/ One died, one survived, two divorced, two beheaded.« Da ist er überführt, der »Blut- und Fettfleck«, wie es Dickens schrieb, »im Buch der englischen Geschichte«.
Von der Geschichte ist in Hever freilich kaum etwas erhalten. Nach dem frühen Tod von Annes Vater fiel das Schloss an Heinrich, der gab es an seinen vierten Versuch, an Anne von Kleve, als Mitgift für die Scheidung nach einem halben Jahr Ehe. Nach deren Tod ging Hever unter. Und von Heinrich blieb der gut gemeinte Vers aus früher Zeit: »For whoso loveth, should love but one;/ Change whoso will, I will be none.«
Erst einem reich gewordenen Amerikaner, William Waldorf Astor, Nachfahre deutscher Emigranten aus Walldorf nahe Heidelberg, war es vorbehalten, Hever zu neuem Leben zu erwecken. Er fand, dass sein Amerika für einen Gentleman bei Weitem nicht die richtige Adresse sei und kaufte 1903, was noch von Hever übrig war.
Einen Großteil des Schlosses ließ er neu errichten – in bloß drei Jahren, mit Hunderten von Arbeitern. Er überzog das Innere mit kostbar falschem Tudorstuck und kunstvollen Intarsien, mit Schnitzereien in der besten Art der alten Meister, aber ausgeführt im 20. Jahrhundert. Er ließ im Hintergrund des Schlosses ein echtes, gleichwohl falsches, Tudordorf errichten, den Park gestalten bis zum Taxuslabyrinth, schuf einen italienischen Garten und dahinter einen See, so kunstvoll und so künstlich wie der große Rest; so aufwendig und kostbar, dass die perfekte Kulisse selbst zum Kunstobjekt erhoben wurde, die Fälschung zum Original. Der Zweifel kommt erst auf den zweiten Blick und im Vergleich: Hat man den Morning Room gesehen mit seiner Ausstattung des 17. Jahrhunderts, dann sind die Balken in den Räumen nebenan mit einem Mal zu akkurat, und noch die Holzkassetten an den Wänden lassen leicht das Lineal erkennen.
Ganz anders Knole: »We don’t restore, we just conserve«, erklärt uns unsere Begleitung programmatisch. Die schweren Dielen, dunkel von den Jahren, sind von alten Schrammen wie genarbt, die Planken haben Löcher oder Risse, aber im Glanz spiegeln sie die Pflege wider, die man ihnen hier gewährt. So scheinen die Jahrhunderte in Knole bis in den Augenblick der Gegenwart hinein.
Nur der Roman »Orlando« selbst ist Opfer der Vergänglichkeit geworden. Virginia Woolf hatte das Manuskript ihrer Freundin geschenkt. Es blieb auch späterhin in Knole, wohin es denn auch mehr gehört als an jeden anderen Ort. Noch vor ein paar Jahren sahen wir es so am Anfang der Visite. Doch die purpurrote Tinte droht inzwischen völlig zu verblassen, und wenn man es dereinst noch einmal in der Großen Halle wiederfindet, dann womöglich als Kopie. Es wäre, paradox genug, in diesem Haus die erste.
Ein Raum für sie allein
Virginia Woolf und Monk’s House in Rodmell
Nach den alten Reiseführern sind wir hier so gut wie aus der Welt, am Fuß der Downs, der Kreidehügel nah am Meer, doch auf der Seite, die der Küste abgewandt ist, am breiten Bett des River Ouse, dort wo der Fluss bei Flut stromaufwärts durch die Wiesen treibt, an Piddinghoe vorüber, Southease, Rodmell – bis nach Lewes: »Farms and stacks and thatches«, versprach einmal der Sussex-Band von Arthur Mees »King’s England« seinen Lesern. Das ist noch heute so wie damals, 1937, die kleinen Bauernhäuser sind dieselben, die kieselhellen, buckligen Feuersteinmauern, die Fachwerkwände, die zum Wetterschutz mit roten Ziegelpfannen bedeckt sind, die holzverschalten weißen cottages , die blassen Heckenrosen in den kleinen Gärten, sogar die Heuschober sind noch zu ahnen, nur die strohgedeckten Dächer werden seltener. »Wenn erst der Abend kommt, bist du allein«, schrieb E. V. Lucas in seinen »Highways and Byeways in Sussex«, »und nur das Blöken der Schafe und der Sirenenton der Fährschiffe erinnern noch an Leben und Zivilisation.« Die Schiffe haben wir in Newhaven gesehen, wo das Geschäft mit den Konvois der Sattelschlepper und der Reisenden aus Frankreich die Misere hinter seinen Backsteinfronten mühevoll verdeckt: Die Arbeitslosenrate hat hier schon einmal das halbe Hundert überschritten. Die kleine Straße, die nach
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