Letzte Aufzeichnungen
vernehmungsfähig sei. Allerdings sagt er nicht, ob ich auch im Prozess verhandlungsfähig sei. Bräutigam setzt daraufhin die Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft aus. Er wolle erst entscheiden, wenn ihm Schneiders Gutachten schriftlich vorliegt.
Die anderen Fragen – Besuche, Post usw. – werden zu meiner Zufriedenheit gelöst.
Nach zweieinhalb Stunden endet die Sitzung. Vor dem Saal warten noch immer die Journalisten. Das Interesse ist groß. Ich bekomme eine Ahnung, wie das bei der Eröffnung der Hauptverhandlung sein wird. Es lässt mich nicht unberührt, aber es regt mich auch nicht sonderlich auf. Vielleicht ist die relative Gleichgültigkeit auch die Folge der Medizin, die ich gegen den Bluthochdruck bekomme.
8. August
Ich bin gestern spät eingeschlafen, aber sehr früh dennoch gut aufgewacht. Ich kann nur schwer wegstecken, was jetzt alles auf mich einstürmt. Das Leben geht weiter. Wie, das muss ich mir noch überlegen.
Ich denke an Dich und hoffe, dass Du bei den Kindern jetzt Ruhe findest. Du hast sie nötig. Niemand hat dies mehr bemerkt als ich.
Ich habe noch einmal den Leitartikel im
Neuen Deutschland
vom 1./2. August gelesen »Der Hochverräter«. Herzerfrischend. Es wäre schön, wenn Du ihn auch einmal lesen könntest. Er wurde von Hermann L. Gremliza (51), Herausgeber der in Hamburg erscheinenden Monatszeitschrift
konkret
, geschrieben.
Tagebuchaufzeichnung vom 9. August 1992
10. August
Heute waren Wolff und Ziegler hier. Wir haben alles besprochen, was in Verbindung mit dem Prozess steht. Die Akten soll ich noch bekommen.
Die Hitze macht mir stark zu schaffen.
Die JVA Berlin-Moabit in der Sommerhitze
11. August
Heute kann ich erstmals wieder durchatmen. Die Nacht war frisch, das wirkt sich auf alle Körperfunktionen positiv aus.
Im Radio melden sie, dass Gorbatschow nach Berlin kommt, um Ehrenbürger der Stadt zu werden. Welch doppelbödige Moral ist hier am Werke? Der ehemalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion wird von denselben Leuten ans Herz gedrückt, die einen anderen Generalsekretär einsperren. Ich hoffe, dass die Bürger der Hauptstadt der DDR ihm für seinen Verrat angemessen danken. Für die Zerschlagung der Betriebe, die Beseitigung der Arbeitsplätze, für die Massenarbeitslosigkeit, für die Einsetzung der Wessis in alle Ämter der neuen Bundesländer, für den Ruin der ostdeutschen Wirtschaft, die Abwicklung der Akademiker usw.
Und in Jugoslawien soll es nun weitergehen, ich höre schon die ersten Siegesfanfaren im Rundfunk. 42 Dabei kann niemand behaupten, dass Rest-Jugoslawien mit Serbien und Montenegro eine Festung des Kommunismus darstellte.
Und was wird mit Afghanistan? Die Meldungen heute sprechen von einem Feuerregen von Raketen, und Granatwerfer, Panzer und Flugzeuge sind im Einsatz, es gibt Tote ohne Ende.
Die Türkei schießt auf die Kurden, Israel auf die Palästinenser. Was ist in dieser Welt los? Und alles, weil wir kapituliert haben. 43
Gestern las ich ein Material über die Beziehungen der DDR zum RGW. Darin hieß es, mehr als Frage formuliert, dass ich möglicherweise die Idee einer Konföderation mit der BRD im Kopf gehabt hätte oder so ähnlich. Natürlich, so etwas hatte ich, hatten wir immer im Hinterkopf. Wir waren doch nicht so stur, wie der Gegner uns immer unterstellte. Ich habe auch in Bonn davon gesprochen.
Vor dem europäischen Haus, von dem jedoch Gorbatschow schwafelte, grauste mir. Und dann sein Berater, dieser Jakowlew, der wenigstens offen war und sagte, wer seiner Meinung nach an allem schuld sei: Marx. 1917 sei mit Lenin als Marxisten das ganze Unheil über die Welt gekommen.
Was hat dieser Gorbatschow nur für ein Gewissen? Ich kann mich an den Perestroika-Kleinbürger noch gut erinnern, als er mir seine Strategie und Taktik erläuterte und die Rolle, die seine Frau Raissa dabei spielen sollte. Und daran, wie er im Kreis der Generalsekretäre ängstlich darauf bedacht war, von uns gelobt und geliebt zu werden. Sein Ansehen war ihm immer wichtig. Einmal habe ich ihn zu beruhigen versucht, weil er im Selbstzweifel war. Ihm war der Beifall aus dem Westen allerdings wichtiger.
Mit ihm ging erst seine Funktion, dann die ganze KPdSU verloren. Jetzt lebt er von seinen Geldgebern, der Dollar wiegt nun mal schwerer als der Rubel. Alle kalten Krieger von Reagan bis Bush stellen sich schützend vor ihn. Gorbatschow hat offenbar nicht bemerkt, wie er zum Schuft wurde.
Eine Konföderation
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