Letzte Aufzeichnungen
Ereignisse irritiert waren –, bleibt es eine unbestreitbare Tatsache, dass die juristische Verfolgung eine politische Abrechnung der BRD mit der DDR darstellte. Der Kapitalismus maßte sich an, über den Sozialismus zu Gericht zu sitzen.
Die herrschende Politik tat und tut alles, um diese gesellschaftlichen Zusammenhänge zu verschleiern und zu leugnen. Nicht alle ließen sich beirren, Klardenkende sahen diese Zusammenhänge. Auch im bürgerlichen Lager gab es Persönlichkeiten, die die Prozesse kritisch verfolgten. Günter Gaus, einst Ständiger Vertreter der BRD bei der DDR, verstand sich als radikaler Demokrat. Er glaubte an diese Ordnung und vertrat sie mit Überzeugung. Als Honeckers Prozess endete, schrieb Gaus, dem dieser gesellschaftliche Kontext sehr bewusst war, am 22. Januar 1993: »Der Wille, die DDR-Geschichte juristisch aufzuarbeiten, hatte die unvermeidliche Zuspitzung auf Totschlag zur Folge. Der Prozess setzte erstens voraus, dass Honecker die Mauer allein und aus Böswilligkeit gebaut hatte und also anzuklagen sei. Das ist geschichtslos. Wahr ist, an der Elbe 1961 existierte tatsächlich die gefährlichste Militärgrenze der Welt. Dass Honecker das auch gesagt hat, macht ja noch nicht, dass es falsch ist. Und es ist auch wahr, der Kalte Krieg wurde 1961 von beiden Seiten heftig geführt und hatte eine Zuspitzung erreicht, dass die Alliierten – wie an ihrem Verhalten abzulesen – ganz froh waren über den Bau der Mauer.«
In einem anderen, früheren Text hieß es dazu bei Gaus: »Lag nicht doch Krieg auf den Straßen von Berlin am damaligen 13. August? Und falls er drohte – und alle Welt meinte, er drohe –, war dann der Mauerbau ein unverhältnismäßiges Mittel zu seiner Verhinderung?«
Gaus warf die Frage nach der Mitverantwortung der Bundesrepublik auf und meinte darum in jenem Beitrag zum Ende des Honecker-Verfahrens, dass »wirkliche Schuld« erst noch verhandelt werden müsse. »Ich denke aber, dass der Bau der Mauer der falsche Punkt ist. Denn es hat, zweitens, keinen Sinn, so zu tun, als sei die DDR eine abtrünnige Provinz der Bundesrepublik gewesen. Es gab zwei voneinander unabhängige deutsche Staaten, von der ganzen Welt anerkannt.«
Über zwei Jahrzehnte sind vergangen. Es braucht seine Zeit, bis die Wahrheit sich durchsetzt. Ein ungetrübter Blick auf Vergangenheit und Gegenwart wird verhindert durch den Nebel, den die herrschende Politik über den tatsächlichen Verlauf der Geschichte verbreitet. Tatsachen lassen sich aber nicht auf Dauer leugnen.
Tatsache bleibt: So lange das sozialistische Deutschland existierte, gab es keinen rabiaten Sozialabbau. So lange das andere Deutschland existierte, wurde Deutschland daran gehindert, seine Söhne wieder in Kriege zu schicken.
Heute gibt es wieder ein kapitalistisches Großdeutschland, das seinen Nachbarn und der Welt erneut Unbehagen einflößt in seinem Streben nach Vorherrschaft. Unbehagen nicht zuletzt auch deshalb, weil schon wieder Nazis ihr Unwesen treiben können. Die Wurzeln des Faschismus wurden in der alten BRD nie ausgerottet. Und sie werden mit der blindwütigen Diskreditierung des Sozialismus, dem törichten unheilvollen Antikommunismus, wiederbelebt.
Ein ungetrübter Blick auf unsere Geschichte, auf die Vergangenheit und auf die Gegenwart sollte nachdenklich machen, Nachdenken befördern, Schlussfolgerungen für Gegenwart und Zukunft liefern.
Erich Honecker hielt an der Überzeugung fest, dass auch in Deutschland erneut gesellschaftliche Kräfte auf den Plan treten werden, die andere Verhältnisse erstreiten werden. Obgleich schwerkrank, ist er bis zum Ende seines Lebens für seine Überzeugung eingetreten.
Auch davon sprechen diese Aufzeichnungen.
Margot Honecker,
Santiago de Chile, Dezember 2011
Die JVA Berlin-Moabit
31. Juli
Mein Sinto muss umziehen. Wir sind sprachlos. Höhere Gewalt. Ich bedauere die Trennung. Er war ein Mann mit vielen Erfahrungen und Kenntnissen. Die Sinti hatten und haben es immer schwer. Eine Überraschung: Er kennt Rechtsanwalt Becker 12 . Jetzt harre ich der Dinge, die heute kommen sollen. Alles andere liegt ja in der Zukunft.
Gestern hatte ich das Glück, nach so langer Zeit Erich Mielke 13 zu sehen. Eine Krankenschwester begleitete ihn beim Rundgang auf dem Hof. Ich rief ihn von oben an. Keine Reaktion.
Ich nochmals: »Erich!« Diesmal mit »Rot Front!«, dass es über den ganzen Hof schallte.
Wieder nichts. Keine Kopfbewegung, kein suchender Blick. Offensichtlich wollte er
Weitere Kostenlose Bücher