Letzte Ausfahrt Neckartal
unserer Verfassung gab es die Rede- und Versammlungsfreiheit. Auch alle anderen Freiheitsrechte und die Rechtsstaatlichkeit waren garantiert.« Er zögerte einen Moment. »Das Einzige, was ich mir vorwerfe, ist, dass ich zu spät bemerkt habe, wann wir die Grenze zu Unfreiheit und Unterdrückung überschritten haben.«
»Mir würden da so einige Antworten einfallen.« Kaum hatte Treidler die Worte gesagt, hätte er sich am liebsten selbst für seine Bemerkung geohrfeigt.
Stankowitz presste die Lippen aufeinander und sah ihn finster an. »Finden Sie es nicht bedauerlich, dass Sie nichts von dem verstanden haben, was ich Ihnen gerade sagen möchte?«
In diesem Moment kam Melchior mit drei dampfenden Kaffeetassen und einer Milchtüte auf einem Tablett zurück. Noch auf der Türschwelle traf Treidler ihr kritischer Blick. Sie stellte das Tablett ab und sah mit dem gleichen ernsten Gesichtsausdruck zu Stankowitz hinüber, der wieder ins Leere starrte.
»Soll ich zwei Pistolen besorgen? Dann könntet ihr euch duellieren.« Trotz des zynischen Tonfalls konnte sie ihre Anspannung nicht verbergen. Sie schaute ein paarmal zwischen den beiden hin und her.
»Nein, Carina.« Stankowitz schüttelte den Kopf und rollte zum Schreibtisch. »Dafür bin ich wohl zu alt. Obendrein wäre es keine Lösung. Und ich denke, es gibt auch keine Lösung für unsere Differenzen. Lassen wir es vorerst darauf beruhen. Einverstanden, Herr Wachtmeister?«
Treidler nickte. Er nahm sich eine der Tassen vom Tablett, schüttete etwas Milch hinein und nahm einen Schluck. Er genoss, wie das heiße Getränk langsam seine Kehle hinunterrann. Der Kaffee war stark und tat gut.
Auch Melchior und Stankowitz tranken schweigend ihren Kaffee.
»Ich denke, wir lassen es für heute gut sein und machen morgen weiter«, sage Melchior dann. »Wir sollten allmählich unsere Zimmer im Hotel beziehen. Nicht, dass sie weg sind und wir doch noch in meinem alten Kinderzimmer übernachten müssen.«
»Wie schon gesagt, ich hätte nichts dagegen.«
»Nein, das ist gut so, Onkel Horst. Aber was hältst du davon, wenn wir gegen sieben wieder vorbeikommen und zusammen was Leckeres kochen?« Melchior schaute fragend zu Treidler.
Er deutete seine Zustimmung mit einem knappen Kopfnicken an. Ob ein gemeinsames Essen mit Stankowitz gut gehen würde?
»Warum nicht?« Stankowitz lächelte. »Ein kleines ostdeutsches Abendessen für unseren schwäbischen Wachtmeister – da bin ich immer dabei. Ich hab bestimmt noch irgendwo Hansa-Keske, Tempo-Bohnen und Club-Cola.«
»Ich dachte da eher an Spaghetti mit Tomatensoße«, entgegnete Melchior schnell.
»War auch nicht ganz so ernst gemeint, Carina.« Stankowitz schob sein Kinn nach vorne und zog ein belustigtes Gesicht.
»Also einverstanden?«
»Natürlich.« Er nickte heftig. »Bis dahin mach ich noch ein bisschen weiter und strecke meine Fühler aus. Es gibt ein paar Foren, da kann man so einiges in Erfahrung bringen.«
»Aber kein Wort über unsere Ermittlungen.« Melchior hob den Zeigefinger.
»Keine Angst. Ich bin seit 1989 nicht mehr im Dienst und garantiere schon deswegen volle Vertraulichkeit«, versicherte Stankowitz augenzwinkernd.
Sein Scharfsinn und seine Tatkraft schienen innerhalb kürzester Zeit wieder zurückgekommen zu sein. Vielleicht würde Treidler ja doch noch von der Club-Cola kosten.
12
Das Hotel Paradies entpuppte sich als frisch renoviertes Stadthotel mit einer großen Fensterfront und Marmorverkleidungen, so weit das Auge reichte. Vergoldete Treppengeländer, Beschläge, Bilderrahmen und eine prunkvolle Sitzgarnitur aus rotem Samt komplettierten das ins Kitschige abgleitende Ambiente. Treidler zog sofort in Zweifel, ob die vier Sterne auf dem kupferfarbenen Schild am Eingang die tatsächliche Hotelkategorie widerspiegelten. Schon nach der schnoddrigen Art und Weise, wie sie der Hotelbedienstete an der Rezeption in unüberhörbarem russischen Akzent begrüßte, fiel sein Urteil negativ aus.
»Igor«, verkündete das goldene Namensschild auf der Brust den Namen des Mannes. Er schien nur wenig älter als Mitte zwanzig und versuchte mit leicht geneigtem Kopf ernst dreinzuschauen. Doch seine Seriosität steigerte dieser Blick kaum – vielmehr erreichte er das Gegenteil. Hinzu kamen dicke schwarze Ränder unter den Fingernägeln, die genauso wenig zu seiner Phantasieuniform in Regenbogenfarben passten, wie der schlecht rasierte Hals. Das Schlimmste an seinem Auftreten jedoch war der arrogante
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