Letzte Ausfahrt Neckartal
befand sich schon auf Schweizer Gebiet. Bis dorthin gab es weder Polizisten noch Zollbeamte. Lediglich ein halbes Dutzend Gleise, die direkt unterhalb der Straße verliefen. Und wenn er den Schienen links des haushohen Straßendamms folgte, landete er nach der nächsten Unterführung in Kreuzlingen.
Er sprang vom Schotterbett auf eine der Holzschwellen und nahm immer gleich zwei Schwellen auf einmal. Er kannte nur eine Blickrichtung: nach vorne. Dort meinte er schon, die Waggons der SBB zu erkennen. Schnell kam er seinem Ziel näher und spürte das zufriedene Lächeln auf seinem Gesicht.
Der Wind trug ihm laute, aber undeutliche Worte zu. Mehmet lief weiter, ohne darüber nachzudenken, dass sie ihm gegolten haben könnten. Da lösten sich sechs Männer aus dem Halbdunkel der Unterführung vor ihm. Das Gefühl der Gefahr wurde schlagartig greifbar: Bullen in Kampfmontur. Mehmet erkannte die Waffen in ihren Händen. Sie mussten hier auf ihn gewartet haben. Verfluchte Scheiße. Das Kaufhaus. Wahrscheinlich hatten ihn die Überwachungskameras erwischt.
»Hier spricht die Polizei! Bleiben Sie stehen und nehmen Sie die Hände hoch!«, hallte eine Stimme über das Gleisfeld.
Mehmet riss den Kopf nach hinten. Hinter ihm standen mindestens noch einmal so viele Männer in dunklen Uniformen, die alle mit einer Waffe auf ihn zielten. Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte er, einfach weiterzugehen. Doch seine Schritte wurden wie von selbst langsamer. Schließlich blieb er stehen, ließ jedoch die Hände unten. Wie zu einer Salzsäule erstarrt, versuchte er aus den Augenwinkeln seine Fluchtchancen abzuwiegen. Die Uniformierten versperrten ihm bereits den gesamten Rückweg, und links von ihm entdeckte er zwei Männer, die mit einem Gewehr auf ihn zielten. Die Unterführung und der Straßendamm auf der rechten Seite schieden ebenfalls aus.
»Hände hoch! Sofort!«, donnerte ihm die Stimme ein weiteres Mal entgegen.
In dem Moment, als er die Hände heben wollte, entdeckte er auf der rechten Seite im Straßendamm eine kleine Öffnung. Gerade mal so groß, dass ein Kind hindurchpasste. Mit Glück würde es auch für ihn reichen, und bis dorthin waren es nicht mehr als zehn, zwölf Meter. Er holte tief Luft und sprintete los. Der Schotter knirschte unter seinen Schuhen und erschwerte sein Vorankommen. Nach ein paar Schritten wurde es besser.
Den ersten Schuss hörte er zwar, aber dieser verursachte nur einen kaum wahrnehmbaren Schmerz im Schienbein. Mit dem Gefühl des Triumphs über die Männer in Schwarz steigerte sich seine Entschlossenheit. Nur noch wenige Meter bis zur Öffnung. Was sich dahinter befand, konnte er nicht erkennen. Egal – Mehmet beugte sich nach vorne, um sich auf den Sprung in das dunkle Rechteck vorzubereiten. Dann hörte er den zweiten Schuss und spürte für einen winzigen Moment den unerträglichen Schmerz an der Schläfe. Schlagartig verschwand das Tageslicht, als ob jemand es ausgeknipst hätte. Und Mehmet wusste, dass ihn nichts mehr aus dieser Schwärze zurückholen würde.
* * *
Bald konnte Treidler die Fenster auf dem Bildschirm nicht mehr zählen, die Stankowitz innerhalb kürzester Zeit öffnete, schloss oder übereinanderschob. Eines allerdings wiederholte sich bei allen Fenstern: Stankowitz gab zwei, drei Befehle ein, und eine wahre Flut von Zahlen und Buchstaben füllte das schwarze Rechteck. Meist blickte er wie unbeteiligt auf das Ergebnis, manchmal jedoch verzog er das Gesicht oder gab einen unverständlichen Laut von sich. Seine Finger flogen die ganze Zeit über die Tastatur, als ob sie nie etwas anderes getan hätten.
»Kannst du etwas finden, Onkel Horst?«, fragte Melchior. Sie stand dicht neben Treidler und starrte ebenfalls auf den Bildschirm.
»Warte kurz, ich muss mich konzentrieren. Bin gleich so weit«, entgegnete er, ohne dass seine Finger auch nur einen Hauch langsamer wurden. Trotz seiner Behinderung pulsierte Stankowitz förmlich vor Energie. Seine Augen tanzten hin und her und nahmen jedes Ergebnis, jede noch so kleine Veränderung am Bildschirm wahr. Sie verrieten, dass er jederzeit auf der Höhe des Geschehens war. Er musste unzählige Stunden am Computer verbracht haben und schien immer noch auf der Suche nach etwas Neuem zu sein.
Während Stankowitz weiter unermüdlich seine Tastatur bearbeitete, verging eine gute halbe Stunde, ohne dass er einen Ton von sich gab. Treidler stellte sich auf eine längere Wartezeit ein. Melchior ging offensichtlich ebenfalls
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