Letzte Ausfahrt Neckartal
auf dem Konto eingetrudelt ist, dass der Inhaber den Sonnenuntergang am Strand bei Mojitos und Margaritas genießen kann. Und zwar jeden Tag für den Rest seines Lebens.«
Treidler schwieg. Sollten sie tatsächlich auf einen Fall von Wirtschaftskriminalität gestoßen sein? Ein Verbrechen, das in groß angelegtem Stil Gelder nach Übersee verschob? Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Aber auf jeden Fall war diese Theorie schlüssiger als die des BKA vom islamistischen Terrorismus.
»Wie alt, sagt ihr, war der Typ?«, fragte Stankowitz.
»Zwanzig«, antwortete Treidler.
»Das wundert mich. Heutzutage können Computerkids in dem Alter oft nur ein paar beschissene Klicki-Bunti-Anwendungen mit der Maus zusammenbasteln. Aber das hier, das ist wirklich noch richtig ehrliche Arbeit.« Er nickte bedächtig. Ohne Zweifel schien er angetan von dem, was er auf dem USB -Stick gefunden hatte. »Da hörst du den Prozessor förmlich mit dir sprechen.« Stankowitz wandte sich dann an Melchior. »Wir sitzen schon verdammt lange hier. Besorgst du uns etwas zu trinken, Carina?« Er blickte zu Treidler. »Bei mir gibt es genau drei Getränke: Kaffee, Wasser und Bier. Also, was trinkt ein schwäbischer Wachtmeister um vier Uhr nachmittags?«
»Kaffee«, antwortete Treidler schnell. Kein Bier, obwohl ihm danach war. Aber er wollte seinen Vorsatz, jede Art von Alkohol zu meiden, nicht gleich am ersten Tag brechen. »Ja, eine Tasse Kaffee wäre jetzt nicht schlecht.«
Melchior nickte. »Gut. Ich mach dann mal Kaffee für uns.« Sie erhob sich von ihrem Klappstuhl und verließ das Zimmer.
Nur noch das monotone Brummen des Computers drang an sein Ohr. Treidler ließ seinen Blick ein weiteres Mal über die Pokale und Urkunden in der anderen Zimmerseite schweifen. Sie war tatsächlich eine erfolgreiche Sportlerin gewesen.
»Sie denken bestimmt, dass ich es verdient habe«, sagte Stankowitz, der noch immer auf den Bildschirm starrte.
»Was?« Treidler wusste beim besten Willen nicht, was Stankowitz meinte.
Der drehte blitzschnell den Rollstuhl zur Seite, sodass er Treidler ins Gesicht schauen konnte. »Das mit meinen Beinen. So wie Sie mich vorhin angesehen haben. Den Blick kenne ich.«
Treidler zuckte mit den Achseln. »Das geht mich nichts an. Ich bin nicht hier, um moralische Werturteile zu fällen.«
»Da haben Sie verdammt recht.« Stankowitz griff ein weiteres Mal nach den Rädern. Mit nur einer einzigen Handbewegung drehte er den Rollstuhl um hundertachtzig Grad, rollte los und kam vor dem Fenster zum Stehen. Er schob die Gardinen zur Seite und schaute auf die Straße. »Wissen Sie, wie viele Leute in der DDR für die Stasi gearbeitet haben?«
Treidler schüttelte den Kopf. »Wie gesagt, das geht mich nichts an.«
Stankowitz’ Blick schien ins Leere zu gehen. »Eine halbe Million. Wenn man noch die Volkspolizei, die Volksarme und die Grenztruppen dazuzählt, summiert sich die Zahl der potenziellen Spitzel auf über eine Million – jeder zehnte erwachsene Einwohner der DDR . In diesem Haus hier wohnen zweiundzwanzig Menschen. Genügend Platz für zwei Spitzel.«
»Und was wollen Sie mir damit sagen? Dass Sie für die Stasi gearbeitet haben, weil es eine Million andere auch taten? Meinen Sie das?« Eigentlich wollte Treidler überhaupt keine Antwort auf seine Fragen. Über die Stasi wollte er noch nicht einmal reden.
»Nein.«
»Oder dass Sie keine andere Wahl hatten?«
»Kann schon sein.« Stankowitz schaute stur nach draußen.
»Dann geben Sie mir eine Erklärung, bei der sich nicht mein Magen umdreht.«
»Denken Sie, nur darum geht es? Um Erklärungen?«
»Um was sonst?«
Stankowitz schwieg und ließ langsam seinen Kopf sinken. Die Schultern hingen schlaff herunter, während seine Hände wie zwei tote Fische auf der grauen Wolldecke in seinem Schoß lagen. Nichts mehr war zu spüren von der pulsierenden Energie, mit der er vorhin am Computer gesessen hatte. Der Mann im Rollstuhl hatte sich von einem Moment zum nächsten verändert. Obwohl Treidler ihn nur von der Seite sehen konnte, schienen die Falten in seinem Gesicht noch eine Spur tiefer und die Augen trauriger. Hier saß ein gebrochener Mann, der in seinem Leben vermutlich gerne vieles anders gemacht hätte.
»Selbst unsere Ideale wurden irgendwann verraten.« In Stankowitz’ leiser Stimme lag ein Anklang unterdrückter Resignation. »Wir waren in vielem weiter als die BRD . Wir waren sozialer, gerechter und in manchen Dingen auch moderner. In
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