Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Land, was sich sehr von Geschichtsschreibung unterscheidet – ein Wort Kafkas, von dem sich stets herausstellt, daß er nicht nur «kafkaesk» ist; er wußte auch eine ganz andere Sprache zu sprechen, hätte man ihn nur erhört.
Diese Aufzeichnungen unterscheiden sich ganz und gar von meinen früheren Tagebüchern. Ich würde gern herausfinden, warum ich heute so viel
platter
schreibe. Möglich, daß die Welt, in der ich lebe, einfach nüchterner ist, es gibt nichts Metaphysisches mehr in ihr oder – um den Bedürfnissen dieser Welt Genüge zu tun – keinen metaphysischen Anspruch. Es gibt keine Rätsel mehr, nur einfaches materielles und geistiges Elend, historische Rückständigkeit, Herdendasein, politische Selbstaufgabe. All das ist nicht mehr das Werk äußerer Umstände, sondern Faktum, Ergebnis des eigenen, selbständigen und unabhängigen Handelns der ungarischen Gesellschaft. Und auf die Frage, was ich damit zu tun habe, muß ich die Antwort als Citoyen suchen, denn dem Anschein nach bin ich Bürger eines freien und unabhängigen Landes, während meine Erfahrungen von etwas ganz anderem Zeugnis geben. Eine schwierige Frage, auf die einzig die Emigration eine relevante und eindeutige Antwort wäre. – Aber auch Emigrieren ist platt.
17 . April 2001 Es wäre endlich an der Zeit zu definieren, was für ein Schriftsteller ich eigentlich bin, direkt ausgedrückt, für wen ich eigentlich schreibe. Noch vor zwei, drei Jahrzehnten hätte ich die Fragestellung für grundverkehrt gehalten. Für wen ich schreibe? Natürlich für mich selbst – hätte die Antwort gelautet und lautet sie im wesentlichen auch heute noch. Doch neige ich heute eher zu der Einsicht, daß bei diesem «Selbst» – seinem Zustandekommen – die gesellschaftlichen Verhältnisse wohl doch eine gewisse Rolle gespielt haben. Zumindest zum Teil bin ich Gefangener dieser Lebensumstände, und das bezieht sich auch auf meine geistigen Äußerungen. Wenn ich sage, ich bin ein jüdischer Schriftsteller (denn diese Tatsache drückt meinen Lebensumständen doch am ehesten ihren Stempel auf), dann sage ich damit nicht, daß ich Jude bin – denn das kann ich meiner Kultur, meinen Überzeugungen nach leider nicht sagen. Doch ich kann sagen, daß ich Schriftsteller einer anachronistischen jüdischen Lebensform bin, des
Galut
, der Lebensform der assimilierten Juden, Träger und Darsteller dieser Lebensform, Chronist ihrer Liquidation, Bote ihres unabwendbaren Untergangs. In dieser Hinsicht spielt die «Endlösung» eine entscheidende Rolle: Jemand, dem sich jüdische Identität allein durch den Versuch der Judenvernichtung, also Auschwitz herstellt, läßt sich in gewissem Sinn doch nicht als Jude bezeichnen. Er ist der «nichtjüdische Jude», von dem Deutscher spricht, dessen entwurzelte europäische Variante; er erfüllt eine große – und vielleicht wichtige – Rolle in der europäischen Kultur (sofern es eine solche noch gibt), in der neueren Epoche der Geschichte des Judentums aber, bei der Erneuerung des Judentums überhaupt – und hier muß ich wieder hinzusetzen: sofern es eine solche gibt, beziehungsweise falls es sie geben wird – spielt er überhaupt keine Rolle.
«Jude» ist nur für den Antisemiten eine eindeutige Kategorie.
18 . April 2001 Stillstand beim Roman. Zum Teil wegen des Lernprozesses am Laptop; damit war zu rechnen. Hauptsächlich aber: Ich habe den Faden verloren. Nun ist von neuem zu klären, wovon genau der Roman handelt. Vorsicht: nicht von Keserű. Der versteckte Erzähler des Romans ist B., der Stückeschreiber; der Selbstmord und alles, was in dessen Folge geschieht, ist seine Konstruktion, so wie auch Keserű, der Katalysator, seine Konstruktion (bzw. Fiktion) ist: Also kann Keserű niemals eine reale, eigengesetzliche Figur sein!
19 . April 2001 Mein Roman als ein spätes Kind, verwöhnt und fragil; er erweckt in seinem alten Vater ungeheure Ängste. Macht sämtliche Kinderkrankheiten durch, und die ständige Sorge ist, wieviel hält seine Vitalität aus. Es würde mich nicht wundern, wenn ich ihn eines Morgens tot auffände. Aber ich wäre untröstlich …
Koestler zähle ich in einem gewissen Sinne zu meinen geistigen Verwandten, wie all jene, die ihr Verantwortungsgefühl für die Welt verführt, auf Irrwege geleitet und heimatlos gemacht hat, bis sie schließlich in der Heimatlosigkeit ihre Ruhe, sogar ihre Berufung fanden. Der Zusammenbruch Europas in den dreißiger Jahren war ein Schauspiel, an
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