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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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das die Welt noch lange denken wird, und wenn ich Koestler lese, schlage ich nicht seine Romane auf, sondern jene erschütternden Dokumente, die er als Zeuge des Jahrhunderts über den Zerfall der bürgerlichen Existenz, sein Enttäuschung von der kommunistischen Bewegung, seine Flucht und seine Internierung in Frankreich geschrieben hat.
    20 . April 2001  Abgrundtiefe Müdigkeit. Seit Wochen bin ich nicht in jenen Moment des Schöpferischen eingetreten, in jenen plötzlichen (und wundervollen) Rausch von Glück, der mich vordem so häufig heimgesucht hat. Depressionen. Schlaflosigkeit. Jüdische Mystik von György Tatár; das einzige, was momentan mein Interesse weckt: Ich gerate beinahe wieder ins Denken, was derzeit eine ungewöhnliche Tätigkeit bei mir ist.
    21 . April 2001  Heute, am Samstagvormittag, bin ich zu der keineswegs erheiternden Feststellung gekommen, daß ich alles, was ich bis jetzt von dem Roman geschrieben habe, den Roman überhaupt, so, wie er ist, wegwerfen muß. Damit mache ich meiner seit elf Jahren gehegten Illusion ein Ende. Vielleicht noch nicht endgültig. Aber was soll ich tun, wenn dieser Stoff weder als Theaterstück noch als Roman noch sonst irgendwie zulassen will, daß ich ihn schreibe?
    22 . April 2001  Ich muß entscheiden, ist der Roman notwendig? Ist es ein Beweis seiner Notwendigkeit, daß ich mich schon fast elf Jahre damit beschäftige? Ist es ein Beweis seiner Notwendigkeit, daß ich diese Arbeit als Abschluß meiner gesamten Arbeit, als ihre Krönung betrachte? Könnte es nicht sein, daß ich eine Geschichte erzählen will, die nicht zu erzählen ist oder die
ich
nicht erzählen kann? Wie sieht diese Geschichte aus, und warum will ich sie erzählen? Etwa aus Eitelkeit, also nur, um
noch einen Roman
zu schreiben, egal was für einen? Die Frage ist falsch, denn der Ehrgeiz, noch einen Roman zu schreiben, ist nicht falsch, es ist der absolut legitime Ehrgeiz eines jeden Schriftstellers, eines jeden Künstlers, der noch nicht den Wunsch hat, in den Ruhestand zu treten.
    Wie also sieht die Geschichte aus?
    1 ) B., der Schriftsteller, Medium von Auschwitz, zerstört im Zeichen von Auschwitz sein eigenes Leben und das Leben seiner Frau; er erkennt, was er getan hat, und schreibt ihrer beider Geschichte nieder, um gewissermaßen Buße zu tun und Läuterung zu bewirken; das Geschriebene – nehmen wir an, einen Roman mit dem Titel
Kaddisch
– übergibt er seiner früheren Frau, als Erklärung und zu ihrer
Aufklärung
, und fordert sie auf, das Manuskript zu verbrennen, gleichsam als Brandopfer und als Lossprechung und Befreiung der Frau von Auschwitz; zugleich als Zeichen der Liebe, seiner Liebe zu ihr; er selbst begeht Selbstmord – nicht deswegen, sondern wegen des vollkommenen Scheiterns seines eigenen Lebens und seiner Zukunftslosigkeit. – Soweit die Geschichte, die sich nicht linear und ohne Perspektivwechsel darstellen läßt.
    2 ) Also haben wir Keserű, eine Vermittlerfigur erfunden, B.s früherer Freund, Verlagslektor und einstiger Liebhaber von B.s ehemaliger Frau – ein Mensch der Papiere, der B.s Nachlaß herausgeben will. Aus im Nachlaß (und anderswo) entdeckten Hinweisen schließt Keserű, daß in diesem Nachlaß ein Roman fehlt; seine Nachforschungen führen ihn zu B.s früherer Frau, Judit, von der er – mittels Erpressung und anderer feinsinniger Methoden – die Geschichte erfährt; überdies gehört dieser Keserű zu den typischen intellektuellen Verlierern der «neuen Zeit», ausgebrannt, jenseits aller Leidenschaft, allen Ehrgeizes – überhaupt aller Zukunft; die Geschichte, die ja gleichzeitig auch seine Geschichte ist, ja, deren Abschluß gleichzeitig auch der Abschluß seiner Lebensgeschichte ist, ist für Keserű unbegreiflich. Seine Darstellung kann daher a) tragisch und b) komisch sein – naturgemäß ziehen wir letzteres vor.
    3 ) Um die Komik seines Charakters noch stärker zu betonen, haben wir uns ein im Nachlaß gefundenes
Theaterstück
ausgedacht. Dieses Stück hatte der Erzähler in der spielerischen Absicht verfaßt, zu prüfen, wie es wäre, wenn sich die Geschichte wirklich so zugetragen hätte, d.h. wenn es eine wahre Geschichte wäre.
    4 ) Nun also: die ganze Geschichte ist keine wahre Geschichte, die Figur des Keserű ist eine vom Erzähler, B., erdachte Figur; die Geschichte und sämtliche handelnden Personen sind Fiktion, der allein wirkliche B., der Erzähler, hat die Geschichte erdacht und erfunden und stellt sie sich in

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