Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
der Gattung der Komödie vor.
So sollte die Geschichte aussehen, das wäre der Roman, der gar nicht so kompliziert ist, wie es hier erscheint, man brauchte nur ein bißchen Begabung, um sie niederzuschreiben. Verfüge ich noch über diese Begabung, besitze ich die Begabung zur plastischen Darstellung noch, oder habe ich sie völlig ausgeschöpft? Oder kann es sein, daß ich tatsächlich nur zu autobiographischen Schreibereien fähig bin, die Gabe für Fiktion mir fehlt? Das ist deshalb nicht sehr wahrscheinlich, weil ja sowohl die
Detektivgeschichte
als auch
Kaddisch
reine Fiktion sind. – Soweit genug für heute.
23 . April 2001 Gestern Lesung auf einer jüdischen Veranstaltung (den Namen der Organisation habe ich nicht behalten). Das letzte Kapitel aus dem
Roman eines Schicksallosen.
Die Kraft und (wie es scheint) ewige Aktualität des Textes packten mich. – Danach ein «Podiumsgespräch» vor Publikum. Ich war sehr scharf (politisch), was sonst nicht meine Art ist. Doch ich bin inzwischen so angewidert, daß es guttat, mich zu erleichtern. M. war ein bißchen erschrocken. Nun, wenn Spitzel im Saal waren – und warum sollten sie wohl nicht da gewesen sein –, fanden sie reichlich zu berichten. – Ein paar (nicht) paranoide Bemerkungen: Man zieht (zöge am liebsten) eine Mauer um mich. Die sogenannten Listen (schon darüber zu sprechen ist eine Schande: Man übergeht mich auf der Autorenliste zum französisch-ungarischen Kulturjahr, nach französischem Protest wird mein Name aufgenommen – genau nach dem üblichen Verfahrensmuster der Kádar-Zeit; letztlich denke ich natürlich nicht im Traum daran, ein staatliches Flugticket anzunehmen, lieber fahre ich nicht). – Ich könnte noch eine Reihe staatlich inspirierter Beschimpfungen in verschiedenen staatlich inspirierten Presseorganen und Radioprogrammen aufzählen. Zwar interessieren sie mich nicht sonderlich, aber ein «Connaisseur» der Diktaturen, wie ich einer bin, weiß genau, wie derartige Phänomene einzuschätzen sind (vor allem so, daß wieder eine Diktatur im Anzug ist). In dieser Hinsicht muß man das Schreiben mit dem Computer beinahe fürchten, weil das Gerät eher Bestand hat als zerreißbares Papier; und wer wollte wegen etwas wie einer ungewissen Lebensgefahr schon seinen Computer zu Boden schmettern. Übrigens eine interessante Feststellung, daß es noch keine veritable Diktatur gegeben hat, zumindest nicht in Europa, seit Computer im allgemeinen und privaten Gebrauch sind. Aber wie für alles würde man sicher auch dafür eine radikale Lösung finden, zum Beispiel die Computer verbieten – sie wären in den Läden einfach nicht mehr zu kriegen.
24 . April 2001 «Aus den Aufzeichnungen eines katholischen Ungarn» … Aber lieber Freund! Sollte Ihnen noch nicht zu Ohren gekommen sein, daß das Judentum und alle seine ketzerischen Abspaltungen (so das Christentum, vom Katholizismus ganz zu schweigen) vergangen, aufgelöst, absorbiert sind und man uns, die einstigen Gläubigen, hier allein gelassen hat?! Sollten Sie, mein lieber katholischer ungarischer Freund, der Sie sich von Ihrer katholischen Kirche wünschten, daß sie die Zigeuner als unsere Brüder und Schwestern betrachtet und das von der Kanzel verkündet: sollten Sie die Geschichte der Kirche, Ihrer katholischen Kirche nicht kennen? Sollten Sie die lange Reihe von Penitenzen, Ausgrenzungen, Verfolgungen, der physischen und geistigen Inquisitionen nicht kennen, deren Endergebnis die Vernichtung der europäischen Juden war? Sollten Sie nicht wissen, daß die Nazi-Behörden jede einzelne Etappe, alle Gesetze und sämtliche Verordnungen dieses Prozesses, vom gelben Stern bis hin zur institutionalisierten gesellschaftlichen Ausgrenzung und Absonderung (sie nannten es Ghetto, mein Freund), von der katholischen Kirche übernommen haben und ihre Neuerung (an Stelle von Scheiterhaufen und Pogrom) «lediglich» die Gaskammer von Auschwitz war? Sollten Sie nicht wissen, daß die Bischöfe Ihrer Kirche im ungarischen Parlament für die ungarischen Judengesetze stimmten? Sollten Sie sich nicht im klaren darüber sein, daß die katholische Kirche (wie im übrigen auch die Juden und alle anderen) vierzig Jahre lang total mit den kommunistischen Behörden kollaboriert hat und diejenigen katholischen Priester, die ihre Berufung womöglich ernst nahmen und im Sinne ihrer Weihe handelten, der Polizei auslieferte? Sollten Sie nicht wissen, daß dieser «hinfällige Mensch», dieser Astralleib,
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