Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Sinn. Auf diesem Gebiet existiert überhaupt kein Sinn, nur Affekt, Romantik und Sentimentalität, lauter subjektive Empfindlichkeiten: Ist es nicht seltsam, daß eine Nation die Einschätzung ihrer Situation und ihrer Realität, ihr nationales und geschichtliches Bewußtsein auf diese Irrealitäten gründet?
7 . April 2001 Ich kann meine von Gott verliehene Einsamkeit nicht schützen. Vielleicht ist damit das Debakel benannt, das mich in kritischen Momenten so quält.
9 . April 2001 Heute nacht hatte ich folgenden
Wunschtraum
: Ich erwachte im Traum (während ich weiterschlief) von einer Leibesvisitation in meiner Lendengegend, die irgendeine angenehme Überraschung verhieß. Einen Moment später wurde ich gewahr, daß ich eine Erektion hatte und mein Penis (wie ich feststellte) seine ursprüngliche Größe und Härte vollständig wiedererlangt zu haben schien; das so lange vermißte Glied, mein einstiger Besitz, reckte sich jetzt wieder triumphierend auf, war größer und härter als je, und ich streichelte es zufrieden (aber nicht so, wie man zu masturbieren beginnt, eher mit der berechtigten Freude des Besitzers); so viel war passiert, als ich in Wirklichkeit erwachte. – Je mehr ich darüber nachdenke, um so klarer scheint mir das ein im Grunde symbolischer Traum zu sein; M. und ich hatten am Vormittag über Mozart gesprochen, M. hatte darauf hingewiesen, wieviel Erotik in seiner Musik stecke, und wir kamen darauf, daß jedes große Werk letztlich erotisch sei; ich fügte noch an, daß es, wenn einem bei einem gelungenen Kunstwerk endgültig die Worte ausgehen, üblich sei, «geil!» zu sagen – und das sage viel mehr aus als das viele ästhetische Geplapper, ja, es sage sogar alles. – Vielleicht ist mein verheißungsvoller Traum eine Ermutigung für den Roman und bedeutet, daß der Roman «geil» wird.
11 . April 2001 Wie und für wen soll man schreiben? «Monsieur Leuwen senior, einer der Teilhaber des berühmten Hauses Van Peters, Leuwen & Co., fürchtete auf der Welt nur zwei Dinge: langweilige Leute und feuchtes Wetter» – Stendhal. Das Vorwort, in dem er sein Buch wie gewohnt der Aufmerksamkeit «seiner kleinen Leserschar» empfiehlt, mündet mit einer überraschenden Volte in den Satz: «Sei darauf bedacht, dein Leben nicht in Haß und Furcht zu verbringen.» (Das könntest du dir als Motto über dein Leben schreiben.)
«Die Mehrheit liebt ganz augenscheinlich dieses süßliche Gemisch aus Heuchelei und Lüge, das man eine
parlamentarische Regierung
nennt» –
Lucien Leuwen
. – Übrigens hat Ligeti mir Stendhal empfohlen. Eine Zeitlang habe ich diesen Autor sehr geliebt; später glaubte ich, die Modernen seien interessanter. – Nicht sicher, ob ich recht hatte. Von wem habe ich am meisten gelernt? Ich glaube, von Thomas Mann (Entschlossenheit und schriftstellerische Haltung, Fleiß und Würde, und nicht zu vergessen: Bildung) sowie von Camus (die unerbittliche Treue zu einem bestimmten Stoff als dem einzig möglichen). Seither habe ich kaum noch einen von ihnen gelesen. – Nebenbei gesagt war Stendhal modern. «Jede Kunst ist neue Kunst.»
12 . April 2001 Unmutig warte ich auf den Augenblick, da sich zweifelsfrei herausstellen wird, wie verdorben mein Stil und wie heruntergekommen mein Geist ist, seit ich auf dem Computer schreibe. Und wieviel geschwätziger ich geworden bin.
Dem letzten Tagebuchroman sollte ich den Titel «Endspiel in der Bar
Zum sicheren Verlierer»
geben.
16 . April 2001 Jeden Tag den schon vorhandenen Text des Romans wieder lesen, um abzusehen, was ich noch vor mir habe. – Der Perspektivwechsel bei ein und demselben Stoff: anscheinend ist es das, was mich am meisten interessiert. Oder bin ich vielleicht so phantasielos, daß ich keinen neuen Stoff habe? Über dergleichen zerbreche ich mir nie den Kopf, ich arbeite immer mit dem, was ich habe. Dies nun wird ein Satyrspiel zu
Kaddisch
(das Wort Satyrspiel dabei von Thomas Mann entliehen). Darüber hinaus aber ist es hauptsächlich (auch) etwas anders: ein großer Roman (in kleiner Form) über den Bankrott dieses Landes. – Ich muß gestehen, daß ich daraus meinen Stoff schöpfe, aus dieser Brühe, diesem Sumpf, diesem Land, in dem ich lebe – wobei der Stoff nicht soziologischer oder ähnlicher Natur ist, vielmehr dem Charakter nach eine geistige Projektion seiner Gesetze (meinetwegen: seiner Existenzgesetze). Andererseits aber auch der Geschichte dieses Landes. Ein Tagebuch-Schreiben über dieses
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