Letzte Instanz
schnell, »da bist du doch ins Haus zurückgegangen, nicht?«
»...ja.«
»Wen hast du da gesehen?«
Schweigen.
»Wen, Judy?«
»Nicht Mama. Ihre Tür war
verschlossen.«
»Aber es war jemand anders da, nicht?«
Sie zögerte, schüttelte dann den Kopf,
nahm die linke Hand von der Waffe und ließ sie sinken. Dann faßte sie sich an
die Augenbraue, wie vorhin im Gang im ersten Stock.
»War jemand oben ?«
Das schwarze Cape flatterte in einem
Windstoß um Judys schlanken Körper. Die Waffe schwankte. Sie runzelte die
Stirn, hielt den Griff fester.
»Denk nach, Judy«, sagte ich. »Der Gang
im ersten Stock. Du stehst da, mit Cordys Ring in der Hand. Die Tür zum Zimmer
deiner Mutter ist verschlossen. Was spürst du?«
Sie hielt den Blick auf Stameroff
gerichtet, doch nach einem Augenblick sagte sie: »Mir ist kalt. Ich bin im
Pyjama und barfuß. Und ich habe Angst. Mama und ich haben diese schreckliche
Tat begangen.« Wieder sprach sie mit ihrer Kleinmädchenstimme, doch jetzt klang
sie wirklich hilflos und angsterfüllt.
»Was hörst du?«
»...fließendes Wasser, ich glaube, in
Mamas Badezimmer.«
»Sonst noch etwas?«
»Schritte. Oben, am Ende des Gangs. In
Dr. Eyestones Suite.«
»Und?«
»...ich gehe zurück. Zur Treppe, die zu
meinem Zimmer führt. Es ist dunkel dort. Ich kauere mich hinter den
Treppenpfosten.«
»Was passiert dann?«
»Die Tür geht auf.«
»Wer kommt heraus?«
Sie sah mich an. Schock und
gleichzeitiges Erkennen zeichneten ihr Gesicht. Mit ihrer Erwachsenenstimme
sagte sie: »Leonard.«
Wieder ein Aufstöhnen unter den
Zuhörern, Gemurmel. Eyestone tat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf.
Judy schwenkte die Waffe von Stameroff
zu Eyestone. »Leonard war im Smoking, und sein Haar war naß. Ich hatte Angst,
daß er mich entdeckte. Wenn er mich mit dem Ring sähe, wüßte er, was meine
Mutter getan hatte. Nur das hatte sie nicht — oder, Leonard?«
Eyestone breitete die Arme in einer
großen Geste der Verwirrung und der Unschuld aus.
Judy faßte die Waffe wieder mit beiden
Händen und war bereit, abzudrücken. Plötzlich teilte sich die Menge. Sie
zerstreute sich und ging auf Distanz.
Ich rannte auf Judy zu.
Sie drehte sich zu mir um, aber zu
spät. Ich rammte gegen ihre Schulter. Packte ihren Arm und schlug ihr die Waffe
aus der Hand. Sie schrie auf, stieß mich weg, ging in die Knie und griff wieder
nach ihr.
Ich warf mich noch einmal gegen sie,
stieß sie weg, beförderte die Waffe mit einem Fußtritt außer Reichweite. Sie
rutschte über den Boden gegen das Fundament. Judy wollte an mir vorbei, aber da
sprang Adah Joslyn auf sie zu, packte sie an den Armen, drehte sie ihr nach
hinten, drückte ihr ein Knie in den Rücken und zwang sie zu Boden. Judy lag da
und schluchzte, das Gesicht in den Schmutz gepreßt.
Hinter mir gab es einen weiteren
Zusammenstoß. Als ich mich umdrehte, sah ich gerade noch, wie Stameroff auf
Eyestone losging.
Der Richter packte Eyestone bei der
Schulter und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Eyestone stolperte. Stameroff
schlug noch einmal mit der ganzen Kraft seines Alters zu. Eyestone sackte auf
ein Knie und stürzte dann nach vom.
Ich spürte die ganze Kraft von sechsunddreißig
Jahren Wut, Scham und Abscheu vor sich selbst hinter Stameroffs Schlägen. Er
war kein Mann, der seinen Zorn gegen sich selbst richtete. Nur so hätte er
Recht tun können, doch statt dessen lenkte er ihn gegen den, der ihn
korrumpiert hatte.
Bevor Wallace ihn überwältigen konnte,
hatte Stameroff Eyestone gegen den Kopf getreten.
Ich kam auf die Füße und ging zur
Mauer. Es war keine Waffe aus der Requisite — es war ein .22 Colt Woodsman. Ich
holte das Magazin heraus, untersuchte die Ladung.
Keine Platzpatronen — echte Kugeln.
Immer noch Melodram oder doch ein
echter Mordversuch? Das würde ich wohl nie mehr ganz sicher erfahren.
Aber eines war sicher: Judy hatte
endlich ihren großen Auftritt gehabt.
34
Am Sonntag nachmittag gestand Leonard
Eyestone im Polizeigewahrsam, wo er sich von den Verletzungen erholte, die
Stameroff ihm zugefügt hatte, Cordy McKittridge getötet zu haben. Aber er
bestritt entschieden den Mord an Melissa Cardinal.
»Und den wird er auch nie gestehen«,
sagte Adah Joslyn, als sie bei mir vorbeikam, um mir von dem Geständnis zu
berichten. Draußen war es für die Jahreszeit wieder ungewöhnlich warm geworden.
Adah und ich saßen auf der Terrasse. Ralph lag, unsere Nähe suchend, zu unseren
Füßen,
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