Letzte Instanz
1
»Zuerst wollten sie mich töten. Aber
sie haben es sich anders überlegt und mir nur sechsunddreißig Jahre meines
Lebens genommen.«
Die Frau war nicht mehr jung. Sie
lehnte neben mir an der Leitplanke der Straße, die zum Fernmeldeturm auf den
Bernal Heights führt. Über den kahlen Hang strich der Wind und zerrte an ihrem
weißen Haar. Es schimmerte im blassen Nachmittagslicht wie ein Spinnennetz. Mit
zusammengekniffenen Augen starrte sie auf die Dächer und Türme der Innenstadt
von San Francisco hinab. An diesem Tag lag der Smog von den Hügeln im Osten bis
zur City über der Bay, und das Panorama erinnerte an ein altes sepiafarbenes
Foto.
Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Nur sechsunddreißig Jahre. Und meinen Mann. Mein Kind. Die ganze Mitte meines
Lebens.«
Ich wartete, wollte ihren Gedankengang
nicht unterbrechen.
»Und die ganze Zeit war ich
unschuldig«, sagte sie. »Sie haben mich so lange drinnen behalten, weil ich
nichts zugegeben habe. Weil ich keine Reue zeigte oder das sagte, was sie hören
wollten. Hätte mich eine Herzattacke nicht fast umgebracht, säße ich noch immer
im Gefängnis.«
Daß sie ihre Unschuld beteuern würde,
hatte ich erwartet. Aber jetzt wußte ich nicht, wie ich reagieren sollte. Ich
habe nie zu denen gehört, die schnelle Urteile fällen, und würde es ganz
bestimmt auch in diesem Fall nicht tun. Als ich nicht antwortete, sah sie mich
durchdringend an. Ihre Augen hatten die Farbe eines seltsam durchscheinenden
Aquamarins und lagen hinter blassen Wimpern tief in den Höhlen. Ich rutschte
ein Stück auf der Leitplanke weiter und lehnte mich ein wenig zurück.
Die Frau, Lis Benedict, und ich waren
vom Haus ihrer Tochter eine steile kleine Straße den Hügel hinaufgestiegen. Auf
ärztliche Anweisungen unternehme sie jeden Tag einen ausgedehnten Spaziergang,
hatte sie mir gesagt. Außerdem sei das Haus klein, und Enge könne sie nicht
ertragen. Auch ich zog es vor, mit ihr im Freien zu reden. Der Mord, für den
sie verurteilt worden war, war ungewöhnlich scheußlich gewesen, das Opfer war
mit dem Messer verstümmelt worden. Und wenn sie jetzt auch alt und zerbrechlich
war, so gingen doch eine Aggressivität und ein Temperament von ihr aus, die mir
unangenehm waren.
»Miss McCone«, sagte sie, »Sie können
sich nicht vorstellen, was es bedeutet, so viel von seinem Leben einzubüßen.«
»Nein, das kann ich nicht.«
»Das Schlimmste ist, daß Sie ständig
auf die Vergangenheit fixiert sind. Diese alte Frau hier, die Ihnen jetzt in
den neunziger Jahren gegenübersteht, diese schuldig Gesprochene, die nun ihrer
Tochter zur Last fällt — das alles bin gar nicht ich. Die wahre Lis Benedict
lebt noch immer im Jahr neunzehnhundertsechsundfünfzig.«
»Und die Jahre, die Sie im Gefängnis
verbrachten?«
»Ein böser Traum, aus dem ich erwachen
möchte.« Sie zeigte auf die Stadt unter uns. Fast ganz San Francisco konnte man
von hier aus sehen, vom Hunters Point bis hinüber zur Golden Gate Bridge. Es
war nicht ohne Ironie, daß zu den wenigen Stellen, die wir nicht sehen konnten,
der exklusive Seacliff-Bereich südlich der Brücke gehörte. Denn dort war der
Mord geschehen.
»Schauen Sie sich um«, sagte sie im
Befehlston. »Neunzehnhundertsechsundfünfzig standen die meisten Wolkenkratzer
dort in der Innenstadt noch gar nicht, und auch nicht diese gräßliche Pyramide.
Also nehme ich sie einfach nicht zur Kenntnis. Diesen häßlichen roten Turm auf
den Sutro Heights — ich ignoriere ihn. Aber am entfernten Ende des Potrero Hill
stand einmal ein gewaltiger Öltank. Für mich steht er noch immer da.
Playland-at-the-Beach, der Fleishhacker Pool, die City of Paris: Die
Wahrzeichen meiner Jugend sind dahin. Und doch sehe ich sie noch.«
Eine ungewöhnliche
Bewußtseinsverschiebung, dachte ich, aber vielleicht bei gerade entlassenen
Strafgefangenen gar nicht so ungewöhnlich. Ich dachte eine Weile nach und
versuchte mir vorzustellen, wie man sich fühlte, wenn man in eine Welt
zurückkehrt, die sich über fast vierzig Jahre hin verändert hatte.
Sie schien mein Schweigen für
mangelndes Verständnis zu halten, sie kam mit ihrem Gesicht ganz nah an meines
und fragte: »Begreifen Sie, was ich meine?«
Wieder wich ich zurück. »Ja, ich
verstehe Sie. Und was könnte Sie wieder in die Gegenwart holen?«
»Ich weiß nicht, ob es überhaupt etwas
gibt.«
»Warum dann das ganze Unternehmen?«
»Wie ich Ihnen schon sagte, es ist
wegen meiner Tochter. Judy hat mich immer
Weitere Kostenlose Bücher