Letzte Worte
hatte– die Digitalaufnahme des leeren Parkplatzes vor der Bibliothek. » Was ist? «
» Du hast Besuch. « Marla drehte sich auf dem Absatz um und ging wieder.
Als Lena die Fernbedienung weglegte, dachte sie sich, dass Marla Simms zu denjenigen gehörte, die sie nicht vermissen würde, wenn sie das Revier verließ. Um genau zu sein, fiel ihr, wenn sie darüber nachdachte, in dieser Stadt nicht ein Mensch ein, ohne den sie nicht leben könnte. Es war irgendwie merkwürdig, dass ihr die Gruppe Menschen, die in den letzten Jahren ihr Leben ausgemacht hatten, so gleichgültig war. Lena hatte Grant County immer als ihre Heimat betrachtet und die Polizeitruppe als ihre Familie. Jetzt konnte sie nur noch daran denken, wie gut es sich anfühlen würde, sie endlich los zu sein.
Lena stieß die Brandschutztür auf und betrat den Bereitschaftsraum. Sie blieb stehen, als sie die Frau sah, die in der Lobby wartete. Denn dank des Fotos, das Frank aus Allisons Brieftasche genommen hatte, erkannte sie Sheila McGee sofort. Sie hatten zusammen auf einer Bank vor dem Studentenzentrum gesessen. Der Junge, von dem Lena jetzt wusste, dass es Jason Howell war, hatte den Arm um Allisons Taille gelegt, und Sheila hatte neben ihrer Nichte gesessen, dicht bei ihr, aber nicht zu dicht. Der Himmel hinter ihnen war von einem tiefen Blau. Die Blätter fielen bereits von den Bäumen.
Sheila McGhee sah dünner, härter aus als auf dem Foto. Als Lena das Foto betrachtet hatte, hatte sie gedacht, dass Sheila der hiesigen Unterschicht angehörte, aber jetzt vermutete sie, dass sie exakt aus dieser Kategorie, nur aus Elba, Alabama, stammte. Sie war so dürr, wie man wurde, wenn man zu wenig aß und zu viel rauchte. Die Haut war schlaff, die Augen waren tief eingesunken. Die Frau auf dem Foto hatte gelächelt. Sheila McGhee sah aus, als würde sie nie wieder lächeln.
Sie drückte sich nervös die Handtasche an den Bauch, als Lena auf sie zukam. » Ist es wahr? «
Marla saß an ihrem Schreibtisch. Lena drückte auf den Knopf, um die Schwingtür zu öffnen. » Kommen Sie doch mit nach hinten. «
» Sagen Sie es mir einfach. « Sie packte Lena am Arm. Sie war stark. Die Adern auf ihrem Handrücken sahen aus wie verflochtene Ranken.
» Ja « , bestätigte Lena, » Allison ist tot. «
Sheila war noch nicht überzeugt. » Sie sah aus wie viele andere Mädchen auch. «
Lena legte ihre Hand auf die der Frau. » Sie arbeitete in dem Diner ein Stückchen weiter unten, Mrs McGhee. Die meisten der Polizisten, die hier arbeiten, kannten sie. Sie war als sehr nettes Mädchen bekannt. «
Sheila blinzelte ein paarmal, aber ihre Augen waren trocken.
» Kommen Sie mit mir « , sagte Lena. Anstatt ins Verhörzimmer führte Lena sie in Jeffreys Büro. Merkwürdigerweise hatte Lena unvermittelt das Gefühl eines Verlusts. Es wurde ihr klar, dass sie irgendwo im Hinterkopf gedacht hatte, in zehn, vielleicht fünfzehn Jahren würde ihr dieses Büro zustehen. Dass sie diesen Traum gehabt hatte, erkannte Lena allerdings erst, als sie ihn verloren hatte.
Doch jetzt war nicht die Zeit, sich mit ihren eigenen zerbrochenen Träumen zu beschäftigen. Sie deutete auf zwei Stühle vor dem Schreibtisch. » Ihr Verlust tut mir sehr leid. «
Sheila setzte sich auf die Stuhlkante, die Handtasche auf den Knien. » Wurde sie vergewaltigt? Sagen Sie es mir geradeheraus. Sie wurde vergewaltigt, nicht wahr? «
» Nein, sie wurde nicht vergewaltigt. «
Die Frau wirkte verwirrt. » Hat dieser Freund von ihr sie umgebracht? «
» Nein, Ma’am. «
» Sind Sie sicher? «
» Ja, Ma’am. « Lena setzte sich neben sie. Ihre Hand lag auf dem Schoß. Die Haut war noch heißer als vorher. Jeder Herzschlag pulsierte schmerzhaft in ihren Fingern.
» Er heißt Jason Howell«, sagte Sheila. »Sie geht seit einigen Jahren mit ihm. In letzter Zeit kamen sie nicht mehr gut miteinander aus. Ich weiß nicht, was da los war. Irgendeine Meinungsverschiedenheit oder so was. Allison war verzweifelt deswegen, aber ich sagte ihr, sie sollte ihn einfach laufen lassen. Kein Mann ist es wert, dass man so leidet. «
Lena bewegte ihre Hand. » Ich komme eben vom College, Mrs McGhee. Jason Howell ist tot. Er wurde letzte Nacht ermordet. «
Sie sah so schockiert aus, wie Lena sich gefühlt hatte, als sie die Nachricht von Marty hörte. » Ermordet? Wie? «
» Wir glauben, er wurde von demselben Täter ermordet, der auch Ihre Nichte umbrachte. «
» Also… « Sie schüttelte verwirrt den Kopf. »
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