Letzten Donnerstag habe ich die Welt gerettet
Socken und eine Unterhose hinlegen würde, liefe er bestimmt den ganzen Tag im Pyjama rum. Na, mir wäre das ja egal, aber Oma nicht.
Direkt vor Frau Müllers Tisch sitzt Sandro. Sandro ist ein bisschen hyperaktiv und hat schulterlange Haare. Darunter versteckt er sich oft wie hinter einem Vorhang. Manchmal fängt er an, den Kopf zu schütteln. Hin und her und hin und her. Mir würde davon ja ganz schwummrig werden, aber vielleicht ist es gerade das, was Sandro so gut daran gefällt.
Frau Müller mag Sandros Schüttelei nicht. Aber sie sagt nichts dazu. Ich glaube, das liegt an den tollen Sätzen. Manchmal kommen nämlich hinter dem Haarvorhang so kluge Sätze hervor, dass Frau Müller ganz komisch guckt – ein bisschen wie ein verliebtes Huhn. Obwohl ich eigentlich gar nicht weiß, wie ein verliebtes Huhn aussieht. Vielleicht wie Frau Müller, wenn Sandro unter seinen Haaren tolle Sätze sagt. So wie: »Seitdem ich die Uhr lesen kann, vergeht die Zeit viel schneller.«
Wenn Sandro sein Haar ganz normal trägt, also hinter die Ohren geklemmt oder mit einem Gummi zusammengebunden, dann stottert er. Ich glaube, darum macht er das mit den Zetteln. Denn meistens sagt er gar nichts, sondern schreibt das, was er sagen will, auf einen Zettel. Er hat immer einen Block und einen Stift dabei. Außerdem trägt er eine Kette um den Hals und daran hängen Schilder mit Sätzen, die er jeden Tag öfter sagt. Die hält er dann einfach hoch, wenn einer der Sätze gerade passt.
Jedenfalls war das vor fünf Wochen noch so. Jetzt ist alles anders. Sandro stottert nicht mehr. Warum er das nicht mehr tut, weiß ich nicht genau. Vielleicht weil wir die Welt gerettet haben oder weil wir jetzt Freunde sind.
Ich weiß, dass Sandros Mutter ganz oft zum Gespräch mit Frau Müller in die Schule kommen muss. Aber dass Frau Müller Sandro das Wackeln unter seinen Haaren nicht verbietet, liegt wohl eher an den tollen Sätzen als an den Muttergesprächen. Eigentlich heißt es ja Elterngespräche. Aber Sandro hat keinen Vater. Natürlich gibt es irgendwo einen Mann, der sein Vater ist, sonst gäbe es ja Sandro nicht. Aber Sandro hat keinen richtigen Papa. Auch keinen für jedes zweite Wochenende.
Bis vor fünf Wochen hatte ich noch nicht so viel mit Sandro zu tun. In der Klasse mögen ihn aber alle gerne. Sandro merkt nämlich immer, wenn jemand traurig oder wütend ist. Er setzt sich dann zu demjenigen und hört ihm zu. Aber einen allerbesten Freund hatte Sandro damals auch noch nicht.
Die Prinzessin heißt eigentlich Tilda und sitzt mir gegenüber. Sie hat ein etwas grünliches Gesicht, ist aber sehr schön. Sie hat lange rote Haare, die in der Sonne leuchten wie Flammen. Wenn sie lacht, tanzen die Sommersprossen auf ihrer Nasenspitze und ihre hellblauen Augen strahlen wie Sterne. Das habe ich von einem Lied, das ich mal auf Omas Radiokanal gehört habe und in dem einer sang, dass die Augen einer Frau wie zwei Sterne leuchten würden. Der Sänger hat bestimmt solche Augen wie die der Prinzessin gemeint. Die Prinzessin wird so genannt, weil sie sich wie eine Prinzessin anzieht. Sie trägt Röcke und Kleider in Rosa und Lila, die mit Rüschen und Bändern verziert sind. Ein bisschen so wie die Kissen und Deckchen, die Oma abends vor dem Fernseher häkelt.
Der Platz neben der Prinzessin ist auch frei, obwohl viele Mädchen gerne neben ihr sitzen würden. Und vielleicht auch mancher Junge. Aber die Prinzessin sitzt alleine, weil bei ihr immer alles eine ganz genaue Anordnung haben muss. Wenn sie morgens kommt, öffnet sie ihren rosa Ranzen und legt ihre Bücher und Hefte auf den Tisch, jeden Tag exakt an die gleichen Stellen. Sie ruckelt und schiebt ihre Sachen so lange hin und her, bis alles ganz genau stimmt. Ich habe mal heimlich nachgeschaut, ob sie sich Markierungen auf den Tisch gemalt hat. Hat sie aber nicht. Die Stifte in ihrem Mäppchen sind alle exakt gleich lang. Sobald sie einen Stift benutzt hat, spitzt sie ihn sofort nach und die anderen auch, damit alle wieder dieselbe Länge haben. Wenn die Prinzessin sich verschreibt, flucht sie fürchterlich.
Ach ja, mein Name ist übrigens Kurt. Ihr müsst gar nichts dazu sagen, ich weiß schon. Blöder Name. Noch blöder ist natürlich, wenn jemand Kurtchen zu mir sagt. So wie Oma es immer macht.
Wie alles begann
Ich fange die Geschichte mit dem Samstag vor fünfeinhalb Wochen an. An diesem Morgen brachten Papa, Oma und ich Mama mal wieder zum Flughafen. Sie würde die nächsten zwei
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