Letzter Aufzug, Genossen! (German Edition)
der allgemeinen Aufregung am wenigsten angesteckt zu sein. Nicht ohne Grund hat er sein Vermögen doch in den letzten Wochen in Sachwerten, insbesondere in wertvollen Immobilien bester Lage anlegen können; und was er sonst noch an Devisen besitzt, hält sich im Vergleich zu den Kapitalien der prominenten Herrschaften in bescheidenen Grenzen. Die Disziplin lässt empfindlich zu wünschen übrig, denkt er säuerlich, komisch, die am zackigsten waren, lassen sich jetzt am auffälligsten gehen; wie Brettspieler in der Erkenntnis, dass die Partie verloren ist, in ihrer Wut das ganze Brett umschmeißen. Jetzt ist´s die Partie der Partei.
Alle schweigen. Das gemächliche Ticken der alten Standuhr mit dem vollen Glockenton und das aufreibende Rascheln der Papiere des greisen La Mettrie sind die einzigen Geräusche. Die Uhr zeigt fünf vor acht. Alle halbe Minute werfen die Damen einen Blick auf sie, nur La Mettrie bleibt in seine Beschäftigung vertieft.
„Also nimm´s mir nicht übel, Uffo, aber du kannst einem wirklich den letzten Nerv rauben mit deinem Knistern und Herumfummeln!“ faucht die Genossin, ihm einen giftigen Blick zuwerfend.
„Ach komm, Genossin, reg dich nicht künstlich auf. Schau, ich war mir halt nicht sicher, ob ich auch in der Eile die Währungen der Genossen alle mit eingepackt hab; doch wie ich sehe, fehlt Gott sei Dank keine...“ Mit einem Seufzer der Erleichterung richtet er sich auf und versucht das Glasauge einzusetzen, das jedoch gleich wieder herausfällt.
Nach einer Schweigeminute sagt die Genossin zögernd: „Eine Frage, Uffo, zu der Meldung eben im Fernsehen, was da zu dem Termin für den ... Beschluss gesagt wurde; das klang doch völlig konfus... Weißt du vielleicht, was da gemeint gewesen sein könnte?“
Den Angesprochenen scheint die Frage peinlich zu berühren, er wirft der Genossin den giftigen Blick zurück und knurrt: „Ich will nichts mehr davon hören!“ Alle sehen den alten Herrn, dessen Wangen sich vor Zorn gerötet haben, verdutzt an; das Glasauge in der Hand, verrät sein Gesichtsausdruck, dass er sich geistig vollkommen verausgabt hat und dass ihm zur Rechtfertigung der Parteiführung nun nichts mehr einfallen will.
Ein jäher Graupelschauer prasselt mit solcher Heftigkeit auf die Fensterscheiben nieder, dass man bei diesem Stakkato kaum sein eigenes Wort hätte verstehen können; die zu Tode erschreckten Anwesenden benutzen die willkommene Gelegenheit, gierig die Kognakgläser zu leeren.
Inzwischen hat sich der Minutenzeiger der Acht genähert. Gespannt starren alle auf das Ziffernblatt, denn Romboy ist berüchtigt für seine Pünktlichkeit. Und tatsächlich: Als der Messinghammer zum Schlag ausholt, schrillt die Klingel der Entréetür, und mit dem achten Schlag klopft es. Auf das vierstimmig gerufene „Herein!“ erscheint der kleine Sekretär des Bankjustitiars und Obersten a. D. und meldet mit einer tiefen Verbeugung: „Doktor Romboy konnte leider nicht warten und ist bereits abgereist. Ich bin da und stehe ganz zu Ihrer Verfügung!“
Dieser Novemberabend gab sich nasskalt und neblig, die von einzelnen Windstößen bewegten kahlen Äste der Kastanienbäume warfen streifige Schatten, als mit ein paar durchbrechenden Sonnenstrahlen der erwartete Expressbrief von Patricia eintraf, dessen Inhalt Johannes einer verzweifelten Resignation nahegebracht haben würde, hätte er davon Kenntnis erhalten. Das Mädchen teilte dem Bruder auf die liebevollste und schonendste Weise mit, dass sie bedauerlicherweise und unter gar keinen Umständen vor dem Osterfest würde heimkehren können, da sie Anfang März ihr Examen als Konzertpianistin an der Musikuniversität von Odessa absolvieren müsse.
Zuerst vermochte der alte Theobald, den Brief stellvertretend für den Jungen lesend, es gar nicht zu fassen; wieder und wieder musste er Satz für Satz, Wort für Wort repetieren, ehe er die schicksalsschwere Tatsache in seinem Innersten erfasste. Patricia kam nicht! Es war nicht auszudenken: Da hatte der arme Junge vier ganze Jahre lang auf sie gewartet, dabei alles – wenn auch vergebens – versuchend, sie wenigstens einmal zu besuchen, sie stets herbeigesehnt mit jeder Faser seiner Gedanken, jeder Fiber seines Bewusstseins, mit all seinen zärtlichen Gefühlen, die man für die Schwester, sein Zwilling und zweites Ich, nur aufzubringen vermag, und da würde sie jetzt, nachdem alle Grenzen binnen Kurzem offen ständen und der Unfreiheit in unblutiger Revolution ein
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