Letzter Weg
wusste sie, dass die nächste nicht lange auf sich warten ließ, und ihre Angst um Sam wurde immer größer. Zwischen den Wehen wurde diese Angst so übermächtig, dass sie an nichts anderes mehr denken konnte.
So war es ausgerechnet der körperliche Schmerz, der ihr Erleichterung verschaffte.
Grace hatte das Gefühl, seit ihrer Ankunft Meilen durch dieses Zimmer gewandert zu sein. Das Bett hatte sie immer nur ganz kurz benutzt. Sie konnte es bisweilen nicht einmal ertragen, sich hinzulegen; es fiel ihr wesentlich leichter, während der Wehen zu stehen und sich von der Schwerkraft ein wenig helfen zu lassen. Sie und Sam hatten geübt, wie sie sich in seine Arme zurücklehnen sollte, während er ihr den Nacken küsste und den Rücken rieb; als sie das zu Hause geübt hatten, hatte Woody immer mitspielen wollen.
Jetzt aber war es kein Spiel mehr … und Sam war auch nicht da.
Grace wanderte wieder einmal durch den Kreißsaal. Sie hatte gerade Cathys helfende Hand abgelehnt, als es ihr einfiel.
Das Foto. Von Lucia und der zwölfjährigen Kez. In dem Rahmen, von dem Lucia behauptet hatte, er sei zerbrochen, obwohl er ganz war.
Inmitten ihrer Erschöpfung war ihr eine Bemerkung Lucias eingefallen, als sie, Grace, ihr erzählt hatte, sie habe das Foto dabei und Lucia könne es haben, wenn sie wolle.
Lucia hatte erwidert, Grace könne das Foto behalten.
Und dann hatte sie gesagt, man wisse nie, wann es einmal von Nutzen sein könnte.
Eine seltsame Bemerkung.
Natürlich bestand die Möglichkeit, dass Lucia damit lediglich gemeint hatte, dass die Polizei das Foto zur Identifizierung würde verwenden können, um ihre Beziehung zu Kez zu bestätigen.
Nun aber glaubte Grace, dass Lucia etwas ganz anderes gemeint hatte.
Etwas sehr Wichtiges.
»Das Foto«, sagte sie zu Cathy.
»Was für ein Foto?«
»In meiner Tasche.« Grace schaute sich um. »Wo ist meine Tasche?«
»Die haben wir ausgepackt«, erinnerte Cathy sie. »In dem Zimmer, in dem du dich bereitgemacht hast. Weißt du denn nicht mehr?«
Bevor man sie in den Kreißsaal gebracht hatte, hatte man Grace in den Raum geführt, in dem sie sich nach der Geburt ausruhen würde. Es war ein hübscher Raum mit einem zweiten Bett, Platz für eine Wiege und einem abschließbaren Schrank für persönliche Gegenstände.
»Meine Handtasche«, sagte Grace.
»Ich glaube, die ist weggeschlossen worden«, sagte Cathy.
Barbara Walden kam in den Kreißsaal. Sie trug einen grünen Kittel und wirkte frisch wie der Frühling, von Jetlag keine Spur.
»Wie geht es Ihnen?«
»Du musst sie holen«, sagte Grace zu Cathy und ignorierte die Ärztin.
Die nächste Schmerzwelle kündigte sich bereits an. Sie begann am Rücken und breitete sich rasch im Unterleib und bis in die Beine aus. Grace versuchte krampfhaft, sich an ihrem Gedankengang festzuhalten, denn das war wichtiger als der Schmerz.
»Ich brauche sie.« Sie schrie vor Schmerz auf. »Für Sam. Ich brauche sie jetzt .«
»Ich will dich nicht allein lassen«, sagte Cathy.
»Ist schon okay«, sagte Barbara Walden zu ihr und trat neben Grace. »Gehen Sie nur.«
Die Wehe war vorbei, und Grace ruhte sich aus, als Cathy mit der Tasche zurückkam.
»Danke.« Grace’ Hände zitterten.
»Lass mich.« Cathy kramte in der Tasche, fand das Foto sofort und zog es heraus. »Hier.«
»Mach den Rahmen auf.« Grace’ Stimme zitterte. »Schau hinter das Bild.«
»Okay.« Cathy drehte den Rahmen um und sah, dass er hinten mit Samt bezogen war. Der Rücken des Fotos wurde von einfachen Klammern gehalten.
»Beeil dich.« Ungeduldig riss Grace Cathy den Rahmen aus der Hand, öffnete ihn und ließ ihn zu Boden fallen.
Eine braun angelaufene Karte stützte das Foto.
Grace begann zu weinen.
»Hier.« Cathy hob den Rahmen wieder auf und nahm die Karte ab.
Da.
Genau, was sie brauchten.
Es war eine Karteikarte mit blauen Buchstaben.
Gelber Oleander für Detective Becket
Eisenhut für Officer Suarez
»Ich gehe sofort in die Notaufnahme und rufe die Cops an«, sagte Cathy. Adrenalin strömte durch ihre Adern.
»Danke.« Grace schluchzte. »Danke.«
Dr. Walden gab ihr noch einen Moment und kam dann herüber. Sie legte die Arme um Grace und rieb ihr sanft den Rücken.
»Das sollte helfen«, sagte sie mit ruhiger Stimme.
»Glauben Sie?«, flüsterte Grace. Sie weinte noch immer.
»Ja«, erwiderte ihre Ärztin. »Sie sollten sich jetzt endlich um sich selbst kümmern.«
»Irgendwie ist es mir im Augenblick nicht so wichtig, was
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