Letzter Weg
2.
Mindestens sechs Leute hörten es (und keiner von ihnen meldete es). Das war mehr als vier Stunden, ehe die Leiche gefunden wurde – um fünf Uhr morgens am Mittwoch –, nicht weit vom Jetski-Verleih entfernt, nahe dem North Shore Open Space Park, gleich südlich von Surfside.
Das Verbrechen war brutal und abscheulich gewesen. Bei dem Geräusch, sagten die Leute, habe es sich um »eine Art Schreien« gehandelt.
»Aber nicht so, wie das Opfer eines Verbrechens schreit«, erklärte jemand.
Das machte den Schrei entweder zu dem eines Zeugen oder, wie manche spekulierten, zu einem Geräusch, das vom Killer stammte.
»Für mich hat es sich wie ein Tier angehört«, sagte ein Mann mittleren Alters, der den Schrei durch das offene Schlafzimmerfenster im fünften Stock des zum Meer hin liegenden Apartmenthauses gehört hatte, in dem er seine Wohnung hatte.
»Er klang verrückt«, sagte seine weniger fantasiebegabte Frau.
Sam war schon vor sechs Uhr morgens in das hübsche weiße Gebäude in der 1100 Washington Avenue gekommen, in dem das Miami Beach Police Department untergebracht war, als Lieutenant Kovac ihn zum Chefermittler im North-Shore-Mord ernannte und ihm seinen Kollegen Martinez an die Seite stellte, der extra für diesen Fall von dem schweren Raub abgezogen wurde, in dem er gerade ermittelte.
Nicht dass Kovac einen der beiden besser hätte leiden können als den anderen, aber so lief es nun mal: Die Detectives des Dezernats für Gewaltverbrechen arbeiteten nach einem Rotationsprinzip: Jeder war einmal an der Reihe, die Verantwortung für neue Fälle zu übernehmen. Außerdem hatte selbst Kovac irgendwann zugeben müssen,dass Becket und Martinez besser zusammen arbeiteten als getrennt, obwohl sie offiziell keine Partner waren.
So war für beide Detectives ein Tag im Büro plötzlich zu einem Tag am Strand geworden.
Allerdings war es kein schöner Tag.
Besonders nicht für den ermordeten Rudolph Muller.
Die unbestätigte Identifizierung war einfach (offiziell war sie noch nicht möglich, denn das Gesicht des Toten war zu Brei zerschlagen), da Muller einen Joggergürtel trug, an dem eine Wasserflasche und eine Tasche für die Schlüssel und die Geldbörse hingen. Rudolph F. Muller, Hausmeister an der Trent University in North Miami, wohnte in der Abbott Avenue, nur ein paar Blocks vom Tatort entfernt.
Er war totgeschlagen worden.
Die Zwanzigdollarnote und die drei Vierteldollarmünzen in der Börse – sowie das Vorhandensein der Schlüssel – schienen auf den ersten Blick einen Raubmord oder einen fehlgeschlagenen Drogendeal auszuschließen.
Laut Elliot Sanders, dem Gerichtsmediziner, ließ der Mord sich in zwei Phasen unterteilen. Zuerst hatte jemand dem Opfer einen wuchtigen Schlag ins Gesicht versetzt – möglicherweise mit einem Baseballschläger oder einem anderen stumpfen Gegenstand –, wobei Muller wahrscheinlich das Bewusstsein verloren hatte.
Dann hatte der Mörder ihm die Kehle durchgeschnitten.
»Einmal quer durch«, sagte Sanders um kurz nach halb sechs zu Sam, kaum dass dieser am Tatort erschienen war. »Chirurgisch sauber. Vermutlich, weil das Opfer bewusstlos war und sich nicht gerührt hat.«
»Chirurgisch sauber?« Sam zwang sich, den Blick wieder über das Grauen schweifen zu lassen, das Teil seiner Arbeit war – zu seinem größten Bedauern. »Sie meinen, mit einem Skalpell?«
»Würde ich nicht sagen.« Sanders beugte sich noch einmal hinunter, um sich abermals zu vergewissern. »Mit einem Küchenmesser, nehme ich an. Später wissen wir mehr.« Er untersuchte die Verletzungen im Gesicht und hob die Augenbrauen. »In Sachen Anästhesie könnte der Täter noch ein bisschen dazulernen.«
»Sonst noch was, Doc?« Sam war sechsunddreißig, ein schlaksiger Afroamerikaner. Er sah zäh aus, war aber dennoch froh, dass er heute nicht gefrühstückt hatte.
»Später.« Der übergewichtige Mediziner rappelte sich auf, tupfte sich die an diesem schwülen Augustmorgen bereits glitzernde Stirn mit einem Taschentuch ab und ging von der Leiche weg.
Beide Männer achteten sorgfältig darauf, wohin sie traten, obwohl Sam und Al Martinez – der gerade ein Stück abseits mit einem Beamten der Spurensicherung redete – schon bei ihrer Ankunft erkannt hatten, dass der Tatort von zahllosen Passanten verunreinigt worden war. Sicherlich von den beiden Joggern, die das Pech gehabt hatten, die Leiche zu finden, und später dann – unter den Umständen ebenfalls unvermeidlich – von der
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