Letzter Weg
Fluchtplan.
Und Lucia lag im Sterben.
Also sah niemand einen Grund, Cathy nicht zu ihr zu lassen.
Die Krankenschwester, mit der sie vor ihrem Besuch sprach, sagte ihr, dass Lucia sie vielleicht verstehen könne, wenn sie mit ihr sprechen wolle; nur solle sie keine Antwort erwarten.
Kez’ Tante hatte die Augen geschlossen. Sie war an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Überall an ihrem Körper waren Schläuche und Kabel. Monitore überwachten ihren Zustand.
Cathy wartete, bis sie allein waren; dann legte sie das Geschenk, das sie mitgebracht hatte, auf den Nachttisch und zog sich einen Stuhl ans Bett.
»Ich habe ein paar Dinge zu sagen«, sagte sie zu Lucia.
Sie wartete einen Augenblick, schaute in das verkniffene, graue Gesicht, beobachtete, wie die Brust sich hob und senkte, betrachtete die dünnen Augenlider.
»Ich gebe Ihnen die Schuld für alles«, sagte Cathy.
Sie wartete einen Moment, als würden Lucias Augen sich vielleicht öffnen; dann fuhr sie fort:
»Ich gebe Ihnen die Schuld, Lucia, denn Sie wussten, was Kez war, und Sie haben nichts gesagt. Sie haben nichts getan, um mich davonabzuhalten, mich in sie zu verlieben. Sie haben uns alle in Gefahr gebracht. Saul und Sam und Grace und alle anderen. Und dann sind da die Leute, die Kez ermordet hat, und diejenigen, die Sie getötet oder zu töten versucht haben – in ihrem Namen.«
Das ist sinnlos.
Es war, als würde sie mit einer Leiche sprechen.
Aber das taten die Menschen ja ständig, in Beerdigungsinstituten oder an Gräbern.
Und Cathy hatte noch ein bisschen mehr zu sagen.
»Vor allem gebe ich Ihnen wegen Kez die Schuld.«
Der Schmerz floss wieder wie Lava durch die Adern. Cathys Stimme wurde lauter, schriller.
»Sie hätten ihr helfen müssen, Lucia, aber nicht auf so kranke Art und Weise, wie Sie es getan haben.«
Zu laut.
Cathy atmete tief durch und fuhr fort:
»Hätten Sie Kez nach dem ersten Mal behandeln lassen, als sie noch ein Kind war, hätte man ihr helfen können, und heute hätte sie das alles hinter sich. Vermutlich hätte man sie in eine psychiatrische Klinik gebracht, aber dort hätte man ihr geholfen. Kez hätte eine Chance gehabt. Sie wäre eine erstklassige Sportlerin geworden.«
Ihre Handflächen waren feucht; sie zitterte, und ihr war übel.
»Und all diese Menschen wären jetzt nicht tot .«
Die Tür öffnete sich, und Cathy erstarrte. Sie rechnete damit, hinausgeworfen zu werden.
Eine freundlich lächelnde philippinische Krankenschwester bot ihr etwas zu trinken an.
»Nein, danke«, sagte Cathy. »Ich komme schon zurecht.«
»Es ist schön«, sagte die Frau, »dass jemand zu ihr gekommen ist.«
»Ja«, sagte Cathy. »Danke.«
Sie wartete, bis die Tür eine Minute lang geschlossen geblieben war.
»Grace fühlt sich wegen Ihnen schlecht«, fuhr sie fort. »Zuerst hasste sie Sie für das, was Sie Sam angetan haben und dem jungen Greg, aber sie ist eine Seelenklempnerin, und sie ist liebevoll und neigtdazu, sich selbst für Dinge die Schuld zu geben, für die sie nichts kann. Sie glaubt, sie hätte wissen müssen, wie gequält Sie waren – das sind ihre Worte, nicht meine. Sie glaubt, dass sie Ihnen hätte helfen müssen.« Cathy schüttelte den Kopf. »Ich nicht. Nur damit Sie es wissen, Lucia: Ich empfinde nicht das geringste Mitleid für Sie. Sie haben Kez zerstört.«
Die dünnen Augenlider flatterten, und die Kurve auf einem der Monitore schlug kurz aus, normalisierte sich dann aber wieder.
Vermutlich war es nur ein Reflex gewesen, vermutete Cathy.
Die Krankenschwester hatte allerdings gesagt, dass Lucia sie vielleicht hören könne.
»Das wäre es eigentlich«, sagte Cathy. »Um Ihnen das zu sagen, bin ich gekommen. Dass ich Ihnen für alles die Schuld gebe. Nur damit Sie es wissen.«
Sie stand auf.
»Ich habe Ihnen auch eine Kleinigkeit mitgebracht. Da ist eine Karte. Darauf steht: ›Ich dachte, Sie könnten das vielleicht als nützlich empfinden.‹«
Sie musterte die Sterbende ein letztes Mal.
»Aber ich nehme an, dafür sind Sie schon zu weit weg«, sagte sie.
Irgendwo in der Nähe weinte ein Mann. Es war ein dünnes, klägliches Geräusch.
»Ich lasse sie Ihnen trotzdem da«, sagte Cathy. »Wenn Sie vielleicht doch noch mal die Augen aufmachen, werden Sie sehen, wie hübsch sie sind. Falls ja, wird es Sie vermutlich schmerzen, sie nicht berühren zu können.«
Sie ging zur Tür.
»Das hoffe ich zumindest«, sagte sie.
156.
14. Oktober
Martinez rief Sam am nächsten Tag
Weitere Kostenlose Bücher