Leuchtend
bereite ich mich in Gedanken schon auf eine erneute Moralpredigt vor. Meine beste Freundin geht nämlich davon aus, dass ich "zu gut" dafür bin, von einem Milliardär mit den Zügen eines Topmodels besessen zu werden. Bereits seit einiger Zeit vermeide ich es, mit ihr über Gabriel zu sprechen, aber sie neigt auf eine unangenehme Art und Weise dazu, dieses Thema immer wieder anzuschneiden.
"Amandine, hast du Lust, dir am Freitag freizunehmen?"
"Warum nicht. Was schlägst du vor?"
"Shopping im Shoppingcenter Bercy 2, Frühstück in Bercy Village und anschließend gehen wir zur Fotografieausstellung in der Maison européenne de la photographie."
Mir wäre ein erholsamer Tag am Lac Daumesnil oder im Bois de Boulogne zwar lieber gewesen, aber mitten im Dezember wird das wohl nicht so einfach sein …
"Ok, ich bin dabei!"
Das Haus der Fotografie ist einer meiner Lieblingsorte, um Energie zu tanken. Ich liebe diesen Ort mitten im Herzen des Pariser Stadtteils Marais. Der gepflasterte Hof, das alte Stadtpalais mit seinen großen, hellen Räumen, das Café im Gewölbekeller … Ich liebe diesen Ort gleichermaßen für seine Atmosphäre und für die Ausstellungen, die dort angeboten werden. Ich fühle mich dort wohl und geborgen. Freitags ist beinahe niemand zu Besuch und man hat das Gefühl, die einzige Person im Museum zu sein – und das ist wirklich selten in Paris! Nach einem leichten Frühstück (ein vegetarischer Salat und ein Entgiftungstee, Marions neueste Angewohnheit) gehen wir zur U-Bahn-Station Saint Paul, um zur Ausstellung zu fahren. Die letzte Ausstellung im November hat mich regelrecht verzaubert. Die Reihe kleiner Farbfotografien von Susan Paulsen war wunderschön und ihre Portraits des alltäglichen Lebens waren poetisch und ungemein rührend zugleich. Experten zufolge gleichen ihre Werke der leuchtenden Schönheit von Vermeers Gemälden, doch mich faszinierten einfach nur dieser Charme, diese offenherzig lachenden Menschen und diese künstlerische Unschärfe, die mich durch das Glanzpapier hinweg in ihren Bann zogen. Ich interessiere mich gar nicht für das Thema der heutigen Ausstellung, denn Marion liebt es, mich zu überraschen. Hoffentlich werde ich diesen Wirbel an einfachen und authentischen Emotionen erneut fühlen, um alles um mich herum vergessen und der Wirklichkeit, insbesondere dieser Leere, die er hinterlassen hat, entfliehen zu können.
Marion schiebt mich in die Eingangshalle des Museums, und als wir unsere Mäntel an der Garderobe abgeben, schwärmt sie abermals von meinem neuen Kleid, das ich mir noch am selben Morgen gekauft hatte. Schwarz und eng anliegend, genau so soll es sein. Das langärmelige Oberteil ziert ein Satinband mit kleinen, weißen Pünktchen, die das Licht reflektieren und meinen Teint betonen. Um die Hüfte wird das Kleid schließlich etwas weiter. Der Rock aus einem wunderschön verarbeiteten, starken Baumwollstoff geht genau bis zu den Knien. Dazu trage ich zarte Strümpfe, die sich an die Rundungen meiner Waden schmiegen, und meine kleinen Lederballerinas. In diesem ungewöhnlichen Outfit fühle ich mich schön und selbstsicher und weiß, dass ich es einmal geschafft habe, meine Vorzüge wirklich zur Geltung zu bringen. Marions Komplimente steigen mir ein wenig zu Kopf und es macht mir großen Spaß, mich um mich selbst zu drehen, damit sie mich von allen Seiten bewundern kann.
"Ich habe dich schon lange nicht mehr so sexy gesehen, Amandine!
Hat dein Milliardär etwas damit zu tun?"
Jetzt geht es wieder los …
"Nein, Frau Detektivin, ich wollte mir nur eine Freude machen. Und es wäre wirklich nett, wenn du damit aufhören würdest, alle drei Minuten von ihm zu reden."
Marion geht knurrend davon, doch ich hole sie schnell ein und springe sie von hinten an, wobei ich einen grellen Schrei loslasse. Ich bin gut gelaunt und es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um miteinander zu streiten! Als Antwort auf meinen Sprung fragt sie mich, ob mir jemand Drogen in meinen Tee gegeben hat, und wir lachen zusammen wie zwei dumme Hühner. Fräulein Zickig muss dringend für kleine Mädchen, also machen wir uns schnell auf den Weg zu den Toiletten. Ich nutze die Gelegenheit, um mir schnell einen Haarknoten zu binden und mein Make-up aufzufrischen. Schließlich spazieren wir Arm in Arm in Richtung des ersten Saales der zeitgenössischen Ausstellung. Ich entdecke die Arbeit des italienischen Fotografen Mimmo Jodice und das Thema Städte. Als ich mir die ersten
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