Leuchtfeuer Der Liebe
Stirn und dann Davys flaumigen Kopf.
Höchst seltsame Dinge waren mit ihm geschehen, seit sie in seinem Leben aufgetaucht war. Und im letzten Monat, als er seinen Frieden mit Davy geschlossen hatte, war ihm so vieles klar geworden.
Er hatte aufgehört, sein Leben als Strafe zu nehmen, die er verbüßen musste. Durch Mary und Davy lernte er die Fülle des Lebens wieder zu schätzen, eines Lebens, das aus Freude und Leid bestand. Liebe war mit Leid verbunden, das wusste er seit langer Zeit, aber er hatte endlich die Angst davor verloren.
„Was ist los?" fragte sie befangen. „Du siehst mich so seltsam an."
„Ich möchte dir so vieles sagen", meinte er sinnend, in den Anblick ihrer Augen versunken, die in der kalten Dezembersonne glitzerten. „Aber ich bin kein Mann vieler Worte."
Sie legte ihre Hand über die seine und führte seine Finger an ihre Lippen. „Lass uns hineingehen und hören, was Judson an diesem schönen Tag von dir will."
Sie betraten einen lang gestreckten Raum mit Navigationskarten an den Wänden, in dem es nach Staub und Tinte roch. In seinen kühnsten Fantasien hätte Jesse sich nicht denken können, wer im Büro der Hafenmeisterei auf ihn wartete.
Er blieb wie angewurzelt stehen, spürte, wie auch Mary neben ihm verharrte. Die Brust wurde ihm eng, Hitze stieg ihm ins Gesicht. Er fixierte die Frauengestalt am Fenster.
Sie wirkte verloren und hilflos, als sie aus dem Fenster auf die hohen Schiffsmasten in der Bucht blickte. Die bleiche Wintersonne erhellte ihr vornehm geschnittenes Profil und ließ die blonden Löckchen seidig schimmern, die unter dem modischen Hut zum Vorschein kamen.
Jesse fand endlich seine Stimme. „Annabelle?"
Sie wandte sich vom Fenster ab, der Hutrand beschattete ihre Augen. „Guten Tag, Jesse."
„Was führt dich hierher? Wo ist Granger?"
„Ich komme alleine. Ich musste dich sehen."
„In deinem Telegramm hast du geschrieben, es sei alles in Ordnung."
„Ja, das ist richtig." Sie machte kleine Pausen zwischen den Worten und musterte Mary forschend.
Mary sprach sie in ihrer offenen, herzlichen Art an. „Sie sind also Annabelle. Jesse hat mir von Ihnen erzählt und mir Ihr Bild gezeigt."
Annabelle lächelte. Und Jesse sah wieder seine kleine Schwester vor sich, die scheue Annabelle mit ihrem geheimnisvollen Lächeln, in deren Augen sich alle sehnsuchtsvollen Jungmädchenträume widerspiegelten.
Doch nun las er Wehmut in ihren Augen.
„Sie bringen mich in Verlegenheit", sagte sie höflich.
„Ich bin Mary, Jesses Ehefrau. Und dies ist unser Sohn Davy."
Annabelle weiß nichts vom Bastard ihres Ehemanns, überlegte Jesse. Sie trat einen Schritt auf Mary zu. „Ich habe immer gehofft, du würdest wieder heiraten, Jesse", sagte sie. „Und das Baby." Ihr Gesicht leuchtete bei Davys Anblick, der in Marys Armen schlief. „Wie schön es ist. Das hübscheste Baby, das ich je gesehen habe."
Jesse wurde verlegen, als Annabelle plötzlich Tränen über die Wangen liefen. Mary versuchte, die beklommene Situation zu retten. „Ihr habt euch sicher viel zu erzählen. Ich lasse euch lieber allein und besuche Hestia", sagte sie munter. „Du weißt, Jesse, wie gerne sie den kleinen Davy verwöhnt. Ich werde dort auf euch warten."
Jesse nickte. „Gut. Wir kommen später nach", sagte er, ohne den Blick von seiner Schwester zu wenden.
Er hörte, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. „Was ist passiert?" fragte er Annabelle, von einer unheilvollen Ahnung beschlichen. „Bringst du schlechte Nachrichten von Mutter und Vater?"
„Nein, ganz im Gegenteil. Sie genießen ihre Europareise und erfreuen sich bester Gesundheit." Sie nestelte an ihrem Retikül und zog ein Spitzentaschentuch hervor. „Es ist wegen Granger." Sie holte tief Atem. „Aber du bist mir so fremd geworden, Jesse. Ich hätte nicht kommen dürfen ..."
„Ich bin immerhin dein Bruder. Was ist geschehen? Wie kann ich dir helfen?"
Ein wehmütiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Ich konnte dir immer vertrauen. Wenn ich Kummer hatte, warst du stets da, um mir zu helfen. Du hast mich nie verraten, wenn ich etwas ausgefressen hatte, und oft genug die Schuld für meine Streiche auf dich genommen. Kein Wunder, dass ich mich in meiner Not an dich wende. Du hast mich niemals enttäuscht, dir kann ich vertrauen."
Meine Frau hat ein Kind von deinem Mann.
Er musterte seine Schwester forschend. Sie hatte sich so sehr verändert, war so erwachsen geworden. Wenn er an sie dachte, hatte er
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