Leuchtfeuer Der Liebe
zugeschnürt, Tränen liefen über sein Gesicht. Seine Schultern wurden von lautlosem Schluchzen geschüttelt.
Alle Wünsche und Sehnsüchte, die er sich zwölf Jahre lang versagt hatte, schienen plötzlich zum Greifen nahe zu sein und waren dennoch unerreichbar. Er war einfach nicht fähig, Mary so zu lieben, wie sie es verdiente. Er brachte es nicht über sich, ihr Kind ins Herz zu schließen wie sein eigenes.
Jesse wusste nicht, wie lange er mit dem schlafenden Kind weinend auf dem Stuhl saß.
„Warum kannst du nicht mir gehören?" murmelte er gepresst. „Warum, verdammt noch mal, bist du nicht mein Sohn?"
21. KAPITEL
M ary stand am Fuß der eisernen Wendeltreppe im Leuchtturm, hielt den Kopf zur Seite geneigt und horchte auf den Wind, der um die Klippen heulte und im Eisengestänge pfiff, sie horchte auf das Tosen der Brandung. Aber sie hörte keine menschlichen Laute.
War es möglich, dass Jesse die Nachtwache vorzeitig beendet hatte und ins Haus zurückgegangen war? Nein, das war nicht seine Art. Selbst wenn er sich um das Kind kümmern musste, würde er seine Pflichten im Leuchtturm nicht vernachlässigen, es sei denn ...
Eine unheilvolle Ahnung stieg in ihr hoch. Vielleicht war etwas mit Davy. Lieber Gott, nein, bitte, nein. Sie stürmte die Eisenstufen hinauf. Keinem anderen würde sie je ihr Kind anvertrauen, nur Jesse. Nur ihm, der hilflose Frauen und wehrlose Kinder beschützte. Auch wenn er es nicht wahrhaben mochte, er war der zuverlässigste Mensch, den sie sich vorstellen konnte.
Er würde lieber sterben, als einen anderen im Stich lassen.
An der obersten Stufe der Wendeltreppe angekommen, war sie auf eine Katastrophe gefasst. Sie war auf alles gefasst, nur nicht auf das Bild, das sich ihr bot. Schwer atmend stand sie auf der Schwelle, klammerte sich am Eisenrahmen der Tür fest.
Strahlenbündel der aufgehenden Sonne fielen schräg in den kleinen Raum. Die Linse rotierte rhythmisch, immer noch von der Lampe beleuchtet. Auf dem Tisch lagen Blätter verstreut. Kinderzeichnungen: ein Pferd, ein Vogel, ein Segelschiff, ein grinsendes Mondgesicht mit abstehenden Ohren. Der Docht der Öllampe war heruntergebrannt, spuckte ein paar Mal und verlosch. Auf dem Logbuch ruhten große Füße in Wollsocken, an den Knöcheln verschränkt. Marys Blick glitt an Jesses Beine nach oben. Der Stuhl war gegen die Wand gelehnt, damit er die Beine ausstrecken konnte.
Auf Jesses Brust lag Davy, friedlich schlafend wie ein Engel im sanften Licht des frühen Morgens. Wie winzig er wirkte in Jesses großen Händen, die ihn umfingen. Und Jesse ...
Sie wagte sich einen Schritt näher. Sein kantiges Gesicht wirkte im Schlaf gelöst und friedvoll. Ihr dunkler Engel. Von Anfang an hatte sie ihn als dunklen Engel gesehen.
Und dann bemerkte sie eine glänzende Spur auf seiner Wange. Winzige Salzkristalle einer getrockneten Träne.
Mary wagte nicht zu atmen. Aus irgendeinem Grund hatte Jesse Morgan in dieser Nacht geweint. Der Gedanke krampfte ihr das Herz zusammen. Sie hatte sich so sehr gewünscht, dass er lernte zu weinen, dass er lernte loszulassen, den Kummer herauszulassen, der seine Seele vergiftete. Nun war es geschehen. Würde er sie dafür hassen?
„Oh, Davy", flüsterte sie und sah ihr Kind an. „Was, um Himmels willen, hast du mit deinem Papa angestellt? Er hat anscheinend geweint."
Jesse schlug die Augen auf. Im Erwachen drückte er das Baby enger an sich.
„Schon gut", sagte Mary eilig. „Ich nehme ihn dir ab." Sie streckte die Arme aus.
Jesse schaute auf das Baby. „Lass ihn schlafen."
„Bist du sicher?"
„Hm." Er blinzelte gähnend ins Licht. „Wie geht es Palina?"
„Ganz gut. Sie hat nur eine leichte Erkältung. Soll ich dir Davy nicht doch abnehmen?"
„Nein, lass nur." Er fuhr sich mit der Hand über die bärtigen
Wangen. „Nun mach kein Aufhebens. Lass ihn schlafen, und wenn er aufwacht, bringe ich ihn rüber."
Sie trat einen Schritt zurück, dann noch einen und noch einen. Ihr war, als begegne sie einem Fremden. Aber dieser Mann war Jesse. Jesse, der sie sonst immer anfuhr, der sich zurückzog und nichts von dem Baby wissen wollte.
„Gut, dann mache ich jetzt unser Frühstück", sagte sie schließlich.
„Tu das."
„Ja." Sie drehte sich um und ging langsam die Eisenstiege hinunter. Am liebsten hätte sie vor Glück gejauchzt und wäre an der Eisenstange nach unten gerutscht wie ein übermütiges Kind. Und als sie den Weg zum Haus entlanghüpfte, dachte sie: Es gibt doch
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