Leuchtfeuer Der Liebe
sich eigentlich dabei denkt. Wie soll ich arbeiten, wenn ich dich im Arm halte?"
Er breitete die Decke auf dem Fußboden aus und legte das Kind darauf. Ein leises Wimmern warnte ihn, ja nicht den verhängnisvollen Fehler zu begehen und Davy allein zu lassen.
„Schon gut, schon gut", beschwichtigte Jesse ihn zähneknirschend. „Einverstanden. Du willst also nicht auf dem Boden liegen." Wenn Mary in der Küche hantierte, trug sie das Baby auf dem linken Arm. Frauen schienen darin ein besonderes Geschick zu haben. Es war Zeit, nach dem Ölbehälter zu sehen, also nahm er das Baby wohl oder übel mit nach unten.
Immer noch in dem kindlichen Singsang, der dem Kleinen offenbar gefiel, erklärte Jesse jeden Handgriff. „Sieh mal, jetzt prüfe ich den Ölstand im Tank. Gut, es reicht noch. Und nun wollen wir mal nach den Messgeräten sehen", erklärte er singend. „Das hier ist ein Windmessgerät. Obwohl ich auch mit bloßem Auge feststellen kann, woher der Wind weht." Vorsichtig stieg er die schmale Wendeltreppe zum Leuchtfeuer hinauf.
Gebannt blickte das Baby in die riesige, rotierende Linse. „Sieht aus wie ein großer, geschliffener Diamant, findest du nicht auch? In einem bestimmten Winkel kannst du Regenbogen im geschliffenen Glas sehen."
Plötzlich schoss Jesse der Gedanke durch den Sinn, dass der Junge in ein paar Jahren die Regenbogenfarben in den geschliffenen Linsen bestaunen würde.
„Das passiert auch bei Sonnenuntergang. Wenn die Sonne knapp über dem Horizont steht, brechen die Prismen das Licht, und es entsteht ein Regenbogen." Im hellen Schein des Leuchtfeuers blickte er aufmerksam in das kleine Gesicht. Davy war ein hübsches Baby.
Wie würde er sich wohl entwickeln? War ihm das unbeschwerte, fröhliche Wesen seiner Mutter in die Wiege gelegt? Welches Schicksal stand ihm bevor? Würde er das Leben tatkräftig anpacken und Schwierigkeiten mit leichter Hand meistern? Oder erwartete das kleine Kerlchen ein hartes Leben mit Schicksalsschlägen, die ihm die Lebensfreude rauben würden?
Unvermutet wünschte Jesse sich, Davy vor einem widrigen Schicksal zu bewahren. Horatio Morgan hatte vermutlich für Jesse den gleichen Wunsch gehabt. Vor vielen Jahren hatte er seinen kleinen Sohn wohl im Arm gehalten und sich gewünscht, ihm die Sterne vom Himmel zu holen. Liebevolle Gedanken an seinen Vater stiegen in Jesse hoch. Vielleicht hatte Mary Recht gehabt, als sie sagte, es sei falsch gewesen, seine Familie nach Emilys Tod zu verlassen. Vielleicht hätte er seine Trauer doch mit den Menschen teilen müssen, die ihn liebten. Er aber hatte sich abgekehrt und alle durch seine Gefühlskälte brüskiert und verletzt.
„Nun komm", sagte er zu Davy. „Du kannst mir helfen, die Eintragungen ins Logbuch zu machen." Er stieg die schmale Eisenleiter in die Zwischenkammer hinunter, setzte sich ans Pult und drehte das Baby um, damit es die Lampe sehen konnte. „Und komm mir bloß nicht mit langatmigen, dramatischen Schilderungen, wie deine Mutter sie gerne hat", warnte Jesse. „Ein Dramatiker in der Familie genügt."
Das Baby wimmerte unzufrieden. Jesse riss eine leere Seite aus dem Buch, malte ein Mondgesicht mit großen Augen und einem grinsenden Mund und zeigte es ihm. Davy verstummte. Dann zeichnete Jesse einen Fisch und ein Pferd, unbeholfen und nicht sonderlich begabt, doch dem Baby schienen die Kunstwerke zu gefallen.
Später machte Jesse seine Eintragungen ins Logbuch, notierte Außentemperatur, Wetterlage und Windrichtung. Dann lehnte er sich zurück und blickte auf die Schriftzüge. Das rhythmische Ticken der Zahnräder und das Tosen der Brandung gegen die Felsklippen vereinten sich zu einer monotonen Melodie.
Er spürte eine Veränderung im Baby. Der kleine Kopf wackelte wieder, dann sank er weich an seine Brust. Jesse erschrak, doch die winzigen Fäuste krallten sich immer noch in sein Hemd, und die Atemzüge gingen regelmäßig. Davy war endlich eingeschlafen.
Jesses Anspannung wich reinster Verwunderung und Freude.
Ein Triumphgefühl durchströmte ihn, das kreischende Baby in den Schlaf gewiegt zu haben. Ganz schön anstrengend, so ein kleines Wesen zu umsorgen, dachte er gähnend.
Jesse blickte auf die Eintragungen, bis die Buchstaben schließlich vor seinen Augen verschwammen. Er spürte, wie die Brust des Babys sich sanft hob und senkte, spürte die Wärme des kleinen Körpers.
Und dann wusste er, warum er die Buchstaben verschwommen sah. Seine Augen brannten, die Kehle war ihm wie
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