Leute, die Liebe schockt
sind beide längst süchtig.
Cotsch kaut auf ihrer Kartoffel herum und guckt dumpf durch die große Fensterscheibe raus in den frühlingshaften Garten. Die Äste der Akazie haben schon kleine hellgrüne Knospen. Und Mama legt mir ungefragt noch eine Kartoffel auf den Teller.
Sofort schubse ich sie weiter auf ihren Teller. »Ich habe keinen Hunger mehr.«
Ich bestimme immer noch selbst, wie viele Kartoffeln ich esse. Mama schluckt trocken, weil sie ja weiß, dass sie mich mit dem Thema »Nahrungsaufnahme« in Ruhe lassen soll. Wer es noch nicht mitbekommen hat: Bis vor Kurzem war ich ziemlich magersüchtig, weswegen ich letztes Jahr in eine psychosomatische Klinik eingeliefert wurde. Es war echt kurz vor knapp, um ein Haar wäre ich verhungert. Langsam geht es mit meinem Bedürfnis, wieder ausreichend zu essen, aufwärts, aber auch nur, wenn
Mama mich nicht dauernd beim Essen beobachtet. Ich muss das jetzt selbst hinbekommen, und ich weiß, dass ich es schaffen werde. Besonders wenn Mama mir endlich mal zutraut, dass ich auf mich selbst aufpassen und mein Leben in die Hand nehmen kann. Bei Magersüchtigen ist es wichtig, dass sie nicht der permanenten Kontrolle und Verhätschelung ihrer Angehörigen ausgesetzt sind. Magersüchtige sehnen sich nämlich nach nichts mehr, als endlich ein selbstbestimmtes Dasein zu führen.
Mama räuspert sich und guckt dann lächelnd zu Cotsch rüber. »Und? Wie war es in der Schule?«
Cotsch stiert weiter an uns vorbei nach draußen. Sie kaut langsam, mit fest zusammengepressten Lippen. Dabei zittern ihre Wangen. Und dann kullern schon wieder Tränen aus ihren Augenwinkeln.
Mama legt ihre Gabel weg und fragt mit tonloser Stimme: »Was ist denn los, Kätzchen?«
Cotsch zuckt mit ihren Schultern und versucht weiterhin, streng zu gucken, aber es kullern immer mehr Tränen aus ihren Augen, und ihre Lippen kann sie auch nur noch schwer geschlossen halten. Jetzt weint sie richtig los. Sie reißt sich ein Stück von der Küchenrolle ab und presst sich das saugfähige Teil eilig aufs Gesicht, so als könnte sie mit dem Stück Küchenrolle ihr Unglück verbergen.
Mama guckt mich ratlos an. »Was ist los? Hat Helmuth sie verlassen?«
Ich mache ein liebes Gesicht und schüttele den Kopf. »Nein.«
Alarmiert fummelt Mama mit den Fingern über die gewebte Struktur der dänischen Tischdecke. Ich weiß,
dass in ihrem Kopf gleich wieder die schlimmsten Dinge vor sich gehen, die sie sich nur vorstellen kann. Ich kenne keinen Menschen auf dieser Welt, der sich mehr Sorgen macht als Mama. Wegen jedem bisschen verbringt sie schlaflose Nächte. Darum nimmt sie manchmal heimlich Beruhigungstabletten, um überhaupt mal zu entspannen. Auch jetzt versucht sie, irgendwie ruhig zu bleiben. »Was ist dann los? Ist ihr jemand zu nahe gekommen?«
Das ist Mamas größte Sorge: dass uns »jemand ungefragt zu nahe kommen könnte«. Besonders bei Cotsch macht sich Mama ihre Gedanken. Sie sagt immer: »Mich würde es nicht wundern, so, wie ihr euch den Jungs anbietet.« Cotsch trägt nämlich gerne sexy Klamotten. Mit ihren Lady-Gaga-Kurven kann sie sich die aber auch gut leisten. Cotsch hat genau an den richtigen Stellen Rundungen. Im Gegensatz zu mir. Ich bin flach wie ein Bügelbrett.
Ich schüttele wieder den Kopf. »Quatsch!«
Ich bin echt gespannt, ob Cotsch Mama jetzt über ihre neue Lebenssituation aufklären wird oder nicht. Momentan hält sie sich einfach nur das Stück Küchenrolle vor das Gesicht und Mama zieht vor lauter Nervosität schon die ersten Fäden aus der Tischdecke. Ich finde, wir sollten sie nicht länger auf die Folter spannen, sonst ist die Tischdecke gleich im Eimer. Aber Cotsch macht keine Anstalten, sich zusammenzureißen und sich der Angelegenheit zu stellen. Stattdessen nuschelt sie tränenerstickt irgendwas in ihre vorgehaltenen Hände. Mama und ich beugen uns über den Tisch, um zu verstehen, was sie meint.
Ich frage: »Was?«
»Fagmufefier …«
»Hä?«
»Fagmufefier …«
»Wie bitte?«
Jetzt reißt Cotsch sich das durchweichte Stück Küchenrolle vom Gesicht und heult: »SAG DU ES IHR!«
Damit meint sie ja dann wohl mich. Ich richte mich also auf, nehme einen Schluck von dem gefilterten Wasser und tupfe mir ebenfalls mit einem Stück Küchenrolle den Mund ab. Bevor ich groß herumstottere und Mama nur noch nervöser mache, erkläre ich rundheraus: »Deine Tochter ist schwanger.«
Mama reißt die Augen auf. »Welche?«
Ich zeige auf Cotsch. »Na die, die da sitzt
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