Leute, ich fuehle mich leicht
vorne nach hinten, und es ist, als würde mich das Universum nach oben ziehen und aufsaugen. Wie soll mich meine liebe, geduldige Mama verstehen, wenn ich selbst es nicht einmal tue?
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B evor es heute Abend in Tessis Schule mit dem »Frühlingserwachen« losgeht, muss ich leider noch zur Therapie. Da fahre ich einmal in der Woche mit der U-Bahn hin. Genau wie Corinna Melms, die Tochter von unserer Nachbarin Frau Melms. Cotsch ist letztes Jahr auch mal zu meiner Therapeutin gegangen, aber nach der ersten Stunde meinte sie gleich, sie habe die Psycho-Tricks von Frau Thomas genau durchschaut. Das hat sie wiederum Frau Thomas gesteckt, und die meinte dann, es sei »schwierig« mit meiner Schwester. Zum Ersatz fahre ich jetzt hin. Mit mir hat Frau Thomas es einfacher. Von mir bekommt sie, was sie braucht. Auch wenn ich nicht gerade begeistert bin, dass Corinna da ebenfalls ihre Psycho-Macken auskurieren lässt. Wenn das bei der überhaupt möglich ist.
Meine Schwester meint: »Corinna ist so eine dumme Sau. Die ist überhaupt nicht krank, die ist einfach nur dumm.« Aber Mama meint: »Jeder hat ein Recht auf einen Therapeuten.« Von mir aus. Ich befürchte nur, Frau Thomas kann auch mir nicht helfen. Bis jetzt zumindest ist keine Besserung eingetreten, was mein Bedürfnis nach Hungern anbelangt. Offenbar sind ihre psychologischen Mittel begrenzt. Sie sagt zwar: »Elisabeth, hab Geduld, es ist ein langer Weg.« Doch unter uns: Ich glaube nicht, dass ich jemals in meinem Leben wieder aufhören werde zu hungern. Ich bin das Hungern. Und das Hungern ist ich. Aber - wie man so schön sagt - die Hoffnung stirbt zuletzt. Wer weiß: Vielleicht ist meine Therapeutin die Reinkarnation von Jesus Christus. Der hatte, wie wir wissen, die heilenden Hände und konnte sogar Blinde wieder sehend machen.
Nun hocke ich also in der U-Bahn und stiere vor mich hin. Vielleicht sollte ich Helmuth mal den Tipp geben, sich auch ein paar Therapiestunden bei Frau Thomas zu gönnen. Um sein verpfuschtes Leben wieder in den Griff zu bekommen. Ich weiß echt nicht, was Cotsch immer mit den Männern anstellt, dass die nicht von ihr lassen können. Die nerven so lange rum, bis Cotsch denen so was von in den Arsch tritt. Irgendwie ist das eine richtige Sucht bei ihr: Männern in den Arsch zu treten. Da ist Helmuth kein Ausnahmefall. Täglich rufen bei uns irgendwelche Trottel an, die mit Cotsch eine Nummer schieben wollen - oder schon eine geschoben haben und nun noch eine Rechnung offen haben. Meine zugeteilte Aufgabe ist es, die Herren abzuservieren, während Cotsch neben mir auf der Fensterbank hockt und kichernd ihre blonden Locken schüttelt. Unter uns: Cotsch sieht verdammt gut aus, das muss man ihr lassen. Trotzdem hat sie sich jetzt wohl in den Kopf gesetzt, sich die Brüste vergrößern zu lassen. Das ist - laut Mama - ihr neuer Lebensplan. Ich vermute, mit den künstlichen Dingern will sie Susanna ausstechen. Cotsch meint: »Dann werde ich eben Pornodarstellerin, statt Professorin.« Ich bin mir sicher, sie wäre damit erfolgreich. Nur Mama und Papa werden da nicht mitmachen wollen.
Dabei scheint draußen so schön die Sonne und die Baumkronen rauschen und blinkern silbrig im Licht. Es ist heiß und der Staub liegt als dünne Schicht auf dem Bürgersteig. Ich hoffe, dass ich heute Abend bei dieser Theatervorstellung neben einem interessanten Typen sitzen werde, der sich sofort in mich verliebt. Wenn ich nur wüsste, wie Cotsch das macht. Die schüttelt ihre Tussi-Locken, und schon lecken alle den Boden ab, auf dem sie stolziert. Mein Freund Arthur hat sich damals einfach so in mich verliebt, ohne dass ich irgendwas dazu beigetragen hätte. Das bringt mir nur jetzt nichts mehr, weil er ja nicht da ist. Früher hat er direkt neben uns gewohnt, ganz allein, seit seine Mutter und sein Vater gestorben waren. Er war mein Hoffnungsschimmer. Mit seinem geringelten T-Shirt, seinem sanften Lächeln, meinen Arthur-Augen. Alles an ihm war meins, ich war seins. Natürlich denkt Arthur an mich und schreibt mir Briefe und schickt mir Fotos, auf denen er lachend vor irgendwelchen Lehmhütten steht. So glücklich habe ich ihn noch nie gesehen. Das ist jetzt sein Glück. Ich nehme es ihm nicht übel. Ich fühle mich nur so schrecklich allein. Und darum finde ich, langsam wird es Zeit, dass sich ein Ersatz findet. Zumindest, bis Arthur zurück ist. Ich werde ja auch nicht jünger.
Für alle Fälle habe ich mir eins von den frisch gewaschenen Secondhandhemden
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