Leute, ich fuehle mich leicht
angezogen, ein paar Ketten um den Hals gehängt und meine Haare antoupiert. Ich finde, ich sehe echt fetzig aus. Wie damals, 1968. Ich bin ein ziemlicher Fan der Sechzigerjahre, weil es da um die Befreiung aus der Engstirnigkeit ging. Die Leute wollten Kunst machen, Musik hören, Sex haben und sich lieben. Ich finde, das sind super Ziele. Ich meine, gerade wir Frauen haben von dieser Ära profitiert. Davor mussten wir ja ständig machen, was die Männer uns befohlen haben. Das soll mal einer bei mir versuchen! Der wird sich wundern. Mama ist ja noch so drauf, dass die sich von Papa sagen lässt, wie oft und wie lange sie sich mit ihrer Freundin Rita treffen darf... Wobei ich Papa da auch verstehen kann. Rita stinkt volle Pulle nach Duschgel. Und Cotsch meint: »Mama hat was mit Rita.« Darum kriegt Papa auch immer einen Anfall, wenn es wieder so weit ist und Mama bei ihrer Busenfreundin abgetaucht ist. Keine Ahnung, was die beiden da in Ritas Chambre veranstalten. Eins ist jedenfalls klar: Mama kommt jedes Mal richtiggehend verwirrt zurück, wenn sie bei ihr zu Besuch war. Mit geschocktem Gesicht stürmt sie zur Tür rein und verschwindet für die nächste halbe Stunde oben in ihrem Nähzimmer, wo inzwischen auch ihr Bett steht. »Ich ruhe mich mal kurz aus.« Cotsch und ich fragen: »Was war denn jetzt wieder los?« Und Mama sagt: »Bei Rita ist eine Schraube locker!« Irgendwann kommt sie wieder runter und fängt an, manisch das Parkett im Wohnzimmer zu polieren. Wir sagen immer: »Mama, geh nicht zu Rita!« Aber unsere Mutter macht nicht, was wir sagen. Wenn ich nur wüsste, was Rita heute für ein außergewöhnliches Problem hatte!
An der Tiermedizinischen Hochschule steige ich aus der U-Bahn aus, gehe die gewundene Kopfsteinpflasterstraße hinunter, an den riesigen Villen vorbei. In der Mitte hat meine Therapeutin ihre Praxis in einer Art hellblauem Schlösschen mit zwei Türmchen.
Ruck, zuck hocke ich da oben.
Auf einem kühlen weißen Ledersessel. Ich flüstere mit leiser, brüchiger Stimme, so als wäre ich kurz vor dem Abnibbeln: »Ich weiß nicht, wie es mir geht. Manchmal glaube ich, es wäre besser...«
Ich finde es wichtig, jedem zu geben, was er braucht. Und meine Therapeutin braucht kranke Patienten, die sie heilen kann. Bitte, hier bin ich. Sie beugt sich weit zu mir vor, weil ich gerade so tue, als ob mir nun vollends die Stimme wegbleibt. Das ist ein dramaturgischer Kniff, den habe ich aus dem Fernsehen. Immer wenn einem Schauspieler die Stimme wegbleibt, weiß man: Jetzt wird es interessant. So geht es auch meiner Therapeutin mit der großen Hornbrille. Sie schiebt sie nach oben und fragt mit ernstem Gesichtsausdruck: »Wie bitte?«
Ich räuspere mich und blicke in die weite Ferne, also direkt hinter sie, wo eine Vitrine mit »Symbolen« steht, wie meine Therapeutin mir bei Gelegenheit erklärt hat. Da liegen Tampons und kleine Teddybären und Püppchen drin. Eine Pistole und ein Messer. Manchmal machen wir Spiele damit. Ich suche Symbole aus, die meine familiäre Situation am besten widerspiegeln. Meistens entscheide ich mich unterbewusst für das Messer oder die Pistole. Jetzt zucke ich mit dem Kopf, so als hätte ich einen Stromschlag abbekommen und wäre gerade wieder in meinen Körper zurückgefahren. Meine Therapeutin starrt mich durchdringend an, sie spürt, sie ist nah dran an der Wurzel allen Übels.
Aber ich lächle nur matt und zucke mit den Schultern. »Na ja. Ist ja nicht so wichtig.«
Meine Therapeutin lächelt nun auch krampfig und meint so gespielt unbefangen: »Erzähl doch noch ein bisschen.«
Also erzähle ich alles, was mir einfällt: wie ich als Dreijährige beinahe entführt worden wäre, dass ich ständig ohnmächtig werde und als Siebenjährige Sorge hatte, dass ein Komet auf unser Haus fällt. Ich sage, dass meine Schwester Cotsch vermutet, dass unsere Mutter ein Verhältnis mit unserer Nachbarin Rita hat, und dass Cotsch mich hasst, weil ich alle Aufmerksamkeit auf mich lenke. Ich erzähle, dass Papa meistens keine Lust hat, mit uns zu reden, und Mama offenbar für blöd oder hysterisch hält. Und dass ich darum vermute, dass er in seiner Freizeit zu Prostituierten geht. Meine Therapeutin schreibt alles mit, als wäre ich ein Diktator und sie meine Sekretärin. Ich denke, an ihrer Stelle hätte ich schon längst einen Krampf in der Hand. Mitnichten. Sie kritzelt hektisch alles mit, was ich über meine Eltern preisgebe: wie mein Vater meiner Mutter mal eine
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