Leute, ich fuehle mich leicht
geklatscht - und womöglich Rita ein unschickliches Angebot auf dem Gemeindefest gemacht hat. Ich erzähle ihr von meinem Albtraum, der immer wieder kam, als ich fünf Jahre alt war, und wie ich früher ständig auf Mamas Schoß saß und Angst hatte, meine Eltern könnten sterben, bevor ich erwachsen bin. Ich erinnere mich, dass ich als Kleinkind in unserem orangefarbenen Schlauchboot saß und im dänischen Meer gekentert und beinahe ertrunken wäre. Und ich sage: »Meine Schwester will sich die Brüste vergrößern lassen.« Frau Thomas schreibt wie eine Besessene mit. Und als sie an die zwanzig Blätter voll notiert hat, soll ich mich im Stuhl zurücklegen und die Augen schließen.
Gerade als ich mich so richtig entspanne, um mich herum die Welt vergesse, artikuliert sie das Wort »Mutter!«.
Das war ja wohl nichts. Gleich fühle ich mich, als hätte mich jemand mit Zement ausgegossen. Ich soll trotzdem Bilder kommen lassen. Es kommen eine Menge Bilder: Mama heulend auf unserer Treppe im Flur, Mama beim Wischen des Wohnzimmerparketts, Mama, wie sie in meinem Kleiderschrank in der Wäsche rumfingert, Mama, die abends, ohne anzuklopfen, in mein Zimmer kommt und meine Bettdecke durchschütteln will, obwohl ich schon darunterliege.
Ich erzähle Frau Thomas, was ich sehe - und ich finde, das ist eine tolle Sache, dieses katathyme Bilderleben, wie es meine Psychologin nennt. Da kommt ja echt viel Müll hoch. Wahrscheinlich sind das alles Sachen, die mich belasten.
Ich bin gerade voll im Geschehen, als ich von weit her schon wieder den Befehl höre: »Nun lass die Bilder verebben.«
Ich lasse sie verebben.
»Bewege deine Arme und Beine und komme langsam wieder in den Raum.«
Das tue ich. Ich schlage die Augen auf und richte die Lehne des weißen Lederstuhls auf. Frau Thomas schaltet das Tonbandgerät ab und von draußen drückt sich das Nachmittagslicht durch die kleinen Dachfenster. Ich fühle mich, als hätte ich mindestens hundert Jahre lang geheult oder so. Ich hole tief Luft und sehe wieder auf die gigantische Hornbrille von Frau Thomas. Die wiegt mindestens vier Kilo. Ziemlich furchterregend. Ich begreife, dass genau das mein Leben ist und ich mich ihm stellen muss. Ich lächle, so wie ich seit meiner Geburt schon lächle, ein Lächeln, das alle mögen, weil es so viel Glück und Irrsinn verspricht. Und ich wünschte, jemand würde auch für mich lächeln. Ich wische mit meinen kalten Händen über meine Oberschenkel, und als Hausaufgabe soll ich die Bilder malen, die ich gerade vor meinem inneren Auge gesehen habe. Ich nicke: »Geht klar.«
Dann bezahle ich meine Stunde.
»Bis zum nächsten Mal, Elisabeth.«
Frau Thomas reicht mir die Hand. Ihr aufmunterndes Gesicht werde ich nie vergessen - ähnlich wie das Geräusch, das die Kartoffeln machen, wenn sie in die Spüle plumpsen. Ich mag Frau Thomas sehr. Irgendwann werde ich ihr das sagen. Ich steige die schmale Stiege des Turms hinunter. Unten ziehe ich die schwere geschnitzte Haustür auf, trete über die Schwelle und Corinna Melms voll auf den Fuß.
»Aua!«
Mit wütenden Augen glupscht sie mich an, während ihr verdammter Zeigefinger am Klingelknopf klebt und sie einen auf Dauerklingeln macht.
Ich sage: »Du kannst aufhören zu klingeln, die Tür ist bereits offen.«
»Bäbäbä.«
Corinna zieht eine gestörte Grimasse, sodass ich jedem abraten würde, sich näher auf sie einzulassen. Auch wenn sie auf den ersten Blick ganz adrett aussieht - sie ist nicht ganz bei Trost. Sie hat diese blonden, langen Haare und hält sich für was Besseres, weil ihr Papa eine hohe Position im Rathaus bekleidet. Mir ist das so was von scheißegal. Und ganz offenbar schützt sie das nicht vor Schwachsinn. Um von ihren Defiziten abzulenken, hat sie immer die besten Klamotten an, die es zu kaufen gibt. Mama meinte aber, nachdem sie bei Frau Melms einmal zum Kaffeetrinken eingeladen war, dass das Innere des Hauses schrecklich eingerichtet sei. »Die geben ihr ganzes Geld nur für Äußerlichkeiten aus.« Daran muss ich jetzt denken. Damit Corinna gar nicht erst Oberwasser gewinnt, sage ich mit triefiger Stimme: »Frau Thomas meint, ich habe ein Borderlinesyndrom.«
»Na und? Ich habe Depressionen!«
»Ich bin aber auch akut selbstmordgefährdet!«
Was nicht stimmt. Meine Schwester ist es. Aber diese dumme Corinna-Tussi soll ja nicht denken, dass sie am Ende kränker ist als ich. Wie Cotsch bereits festgestellt hat: »Corinna ist nur dumm, nicht krank.« Unter uns:
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