Leute, ich fuehle mich leicht
Meine Schwester ist total eifersüchtig auf Corinna und mich, weil wir zur Therapie dürfen. Darum setzt sie alles dran, irgendwie doch wieder an Termine mit Frau Thomas zu kommen. Wenn sie zu Hause so weitermacht, hat sie beste Chancen. Corinna sagt gar nichts mehr und starrt mich nur an. Ihr ist wohl nicht recht, dass ich weiß, dass sie hier Patientin ist. Zu spät. Die ganze Siedlung weiß Bescheid. Ihre Mutter prahlt damit nämlich beim Einkaufen. An der Edeka-Kasse gibt sie immer die neuesten therapeutischen Erfolge zum Besten: »Corinna lächelt jetzt wieder viel öfter als früher.« Das weiß ich von Mama, der immer die Birne schwirrt, wenn sie vom Einholen kommt. Na ja.
Ich quetsche mich an der tauben Nuss vorbei, die wie festgewachsen auf dem Fußabtreter stehen bleibt. Diese Corinna ist so was von unbeweglich! Und lächeln tut sie auch nicht. Dafür müffelt sie nach Waschmittel. Für die ist das Leben schon gelaufen, das kann ich ihr schwarz auf weiß geben. Innerlich ist da nichts los. Ist zum Glück nicht meine Sache. Gerade als ich die Stufen hinuntersteige und mit diesem Zwischenspiel bereits gedanklich abgeschlossen habe, höre ich hinter mir Corinnas Piepstimme: »Meine Mutter sagt, deine Schwester ist eine Nutte.«
Vor mir liegt der blühende Vorgarten, Schmetterlinge flattern über die Blüten wie im Paradies. Am Ende knarrt die hölzerne Pforte. Ich bleibe wie festgewachsen stehen und drehe mich langsam um. Corinna zeigt mir ihren rosa lackierten Mittelfinger und will schon im dämmrigen Vorraum von Frau Thomas’ Haus verschwinden. Doch diese Rechnung hat sie ohne mich gemacht - wie Papa gerne sagt. Ich setze meinen stahlharten Blick auf und springe blitzschnell die Stufen zu Corinna hinauf. Ich packe sie am Ärmel von ihrem hellrosa Tussi-Outfit und schüttel sie ein bisschen. Ich weiß jetzt nicht, ob ich ihr eine klatschen soll - oder doch besser raus auf die Straße verdufte und zum Runterkommen eine Zigarette rauche. Ich entscheide mich für die zweite Variante. Nicht weil ich Corinna nicht gerne eine kleben würde, sondern weil ich denke, dass es vernünftiger ist, sich nicht reizen zu lassen. Sonst wird in der Siedlung auch noch von mir behauptet, ich sei eine Schlägertype. Das würde Mama das Herz brechen. Bevor Corinna endgültig im Haus verschwindet, streckt sie mir noch schnell die Zunge raus. Voll peinlich! Meine Schwester hat echt recht: Corinna ist einfach nur dumm. Und in ihrem Leben wird sie nicht weit kommen. Das ist mal klar.
Ich springe die Stufen wieder runter und rufe: »Das hat ein Nachspiel!«
Ich hätte ihr wirklich gerne noch so einiges verpasst. Dieser verwöhnten Tussi muss man doch mal zeigen, wo der Hammer hängt! Die Tür fällt ins Schloss und ich gehe den schmalen Plattenweg entlang, durch den duftenden, zugewucherten Garten. Hinter mir schließe ich die knarrende Pforte und laufe los, in Richtung Abendgestaltung. Einen letzten Blick nach oben zum hellblauen Türmchen, wo Corinna jetzt einträchtig mit meiner Psychologin hockt, gönne ich mir trotzdem noch. Der Tag wird kommen, an dem ich meine Schwester räche. Darauf kann sich Corinna verlassen. Ich hole tief Luft und schwebe hinaus auf die frühabendliche Straße des Sommers. Ich wäre dann so weit: für eine neue Begegnung in meinem Leben. Mit einem kulturell interessierten Jungen, der mich küsst. Mit einem Jungen, mit dem ich nicht alleine bin. Und da vorne geht mein Vater mit einer Frau über die Straße, die ich nicht kenne. Vielleicht halluziniere ich aber auch nur. Das kann passieren, wenn man lange Zeit kaum etwas gegessen hat. Dann produziert man komische Hormone, die einen irrational werden lassen. Ich fange an zu laufen und versuche dabei, meine Augen scharf zu stellen. Tatsächlich! Es ist Papa! Ich erkenne ihn an seiner gelben Cordhose, den X-Beinen und dem grau melierten Haar! Was macht der denn hier? Sein Büro befindet sich definitiv nicht in diesem Stadtteil. Und wer ist die Frau, die sich immer wieder ihre Handtasche neu über die Schulter wirft und diese roten Haare hat? Sehen so heutzutage Prostituierte aus? Leute! Ich muss das eruieren! Auf geht’s!
»Papa?«
Ist der schwerhörig, oder was? Latscht der da mit der Tante längs und dreht sich nicht zu mir um. Gestikuliert nur wild mit seinen Händen rum, als würde er der Lady die letzten tausend Jahre der Weltgeschichte gestisch darstellen wollen.
»Papa!«
Na endlich! Gerade als er mit seiner rothaarigen Begleitung im schicken
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