Lewis, CS - Narnia 1
erfahren. Mittlerweile solltet ihr nicht vergessen, was ihr gesehen habt. So gehe ich mit Dingen und mit Menschen um, die sich mir in den Weg stellen.«
Durch die offenen Tore fiel mehr Licht herein, als sie bisher in dieser Stadt gesehen hatten, und als die Königin sie über die Schwelle führte, überraschte es die Kinder nicht sonderlich, daß sie plötzlich im Freien standen. Ein kalter, aber irgendwie schaler Wind blies ihnen entgegen.
Von einer hohen Terrasse blickten sie hinab auf ein weites Land.
Tief unter ihnen, nahe am Horizont, hing eine riesige rote Sonne, weit größer als die unsere. Digory spürte sofort, daß sie älter sein mußte als die unsere, daß es eine Sonne war, die kurz vor dem Tod stand, die es müde ist, auf diese Welt herunterzublicken. Zur Linken der Sonne stand ein wenig höher am Himmel groß und strahlend ein einziger Stern. Abgesehen von diesem gespenstischen Paar war sonst nichts am dunklen Himmel zu sehen. Und auf der Erde erstreckte sich nach allen Seiten, so weit das Auge reichte, eine riesige Stadt, in der es kein einziges Lebewesen zu geben schien. Und all die Tempel, Türme, Paläste, die Pyramiden und Brücken warfen im Licht dieser verglühenden Sonne lange, schreckenerregende Schatten. Einst war ein großer Fluß durch die Stadt geflossen, doch das Wasser war längst vertrocknet, und nur ein staubgraues Flußbett war übriggeblieben.
»Betrachtet gut, was kein Auge jemals mehr betrachten wird«, sagte die Königin. »Das war Charn, die prächtige Stadt, die Stadt des Königs der Könige, das größte Wunder dieser Welt, vielleicht sogar aller Welten. Regiert dein Onkel auch eine so große Stadt, mein Junge?«
»Nein«, entgegnete Digory. Gerade wollte er erklären, daß sein Onkel Andrew überhaupt keine Stadt regierte, doch da fuhr die Königin auch schon fort: »Jetzt ist alles still hier. Doch ich habe zu Zeiten hier gestanden, als die Luft erfüllt war vom Lärm der Stadt; da stampften Füße, knarrten Räder, da klatschten Peitschen, stöhnten Sklaven, da klapperten Wagenräder, dröhnten die Zeremonientrommeln in den Tempeln. Ich habe hier gestanden–doch das war nahe dem Ende–, als aus allen Straßen Kampfgeräusche hallten und der Fluß Charn rotes Wasser führte.« Sie machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: »In einem einzigen Augenblick hat eine Frau alles ausgelöscht.«
»Wer war das?« fragte Digory mit schwacher Stimme, doch die Antwort kannte er eigentlich schon.
»Ich«, sagte die Königin. »Ich, Jadis, die letzte Königin, doch Königin über die ganze Welt.«
Die beiden Kinder standen da und schwiegen. Sie zitterten im kalten Wind.
»Es war die Schuld meiner Schwester«, erklärte die Königin. »Sie hat mich dazu getrieben. Möge der Fluch aller Mächte für immer und ewig auf ihr lasten! Ich war stets bereit, mich mit ihr zu versöhnen–ja sogar das Leben wollte ich ihr schenken, wenn sie mir nur den Thron abgetreten hätte. Aber das tat sie nicht. Ihr Stolz ist es, der die Zerstörung der ganzen Welt herbeigeführt hat. Selbst nach dem Beginn des Krieges bestand der feierliche Schwur, daß weder sie noch ich die Magie zu Hilfe nehmen wollten. Was sollte ich tun, als sie ihr Versprechen brach? Närrin! Als hätte sie nicht gewußt, daß meine Zauberkunst mächtiger war als die ihre! Sie wußte sogar, daß ich um das Geheimnis des Unaussprechlichen Wortes wußte. Dachte sie, ich würde es nicht benutzen? Feige war sie ja schon immer.«
»Wie lautete es?« fragte Digory.
»Das war das Geheimnis aller Geheimnisse«, erklärte Königin Jadis. »Den großen Königen unseres Bluts war schon seit ewigen Zeiten bekannt, daß es ein Wort gab, das–von den entsprechenden Zeremonien begleitet jede lebende Kreatur vernichtete, außer der, die es sprach. Doch die alten Könige waren schwach und kleinmütig und banden sich und alle, die nach ihnen kamen, mit mächtigen Schwüren an die Verpflichtung, nicht einmal danach zu trachten, das Wort zu erfahren. Mir wurde es an einem geheimen Ort offenbart, und für dieses Wissen mußte ich einen schrecklichen Preis bezahlen. Ich habe es erst benutzt, als meine Schwester mich dazu zwang. Ich habe gekämpft und gekämpft, um sie mit anderen Mitteln zu besiegen. Ich habe das Blut meiner Heere vergossen, als wäre es Wasser…«
»Ekelhaftes Geschöpf!« murmelte Polly.
»Die letzte große Schlacht wütete drei Tage lang in dieser Stadt. Drei Tage lang habe ich von dieser Stelle aus zugesehen. Ich habe
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