Lewis, CS - Narnia 1
verschwinde. Ich habe genug von diesem Ort hier. Und von dir auch–du ekelhafter, arroganter, eigensinniger Kerl!«
»Kommt nicht in Frage!« sagte Digory, und seine Stimme klang noch ekelhafter, als er eigentlich beabsichtigte. Er hatte nämlich gesehen, daß Polly die Hand in die Tasche stecken wollte, um den gelben Ring anzustecken.
Eigentlich gibt es keine Entschuldigung für das, was er jetzt tat. Höchstens könnte man anführen, daß es ihm später sehr leid tat. Und nicht nur ihm allein. Bevor Polly in die Tasche greifen konnte, packte er sie am Handgelenk, wehrte mit seinem anderen Ellbogen ihren anderen Arm ab, beugte sich vor, nahm das Hämmerchen und schlug damit leicht gegen die goldene Glocke. Erst dann ließ er Polly wieder los. Atemlos standen sie sich über und starrten sich an. Polly begann zu weinen. Nicht aus Furcht und auch nicht deshalb, weil ihr Handgelenk ziemlich weh tat, nein, sie weinte vor Wut. Doch schon ein paar Sekunden später passierte etwas, was sie ihren Streit total vergessen ließ.
Als Digory die Glocke berührte, erklang ein süßer, sanfter Ton. Doch dieser Ton verklang nicht–nein, er wurde immer lauter und lauter. Nicht mal eine Minute war vergangen, da war er schon doppelt so laut wie am Anfang. Und gleich darauf war er schon so laut, daß die Kinder sich nicht mehr hätten hören können, hätte einer von ihnen etwas sagen wollen. Aber die beiden standen ohnehin nur da und rissen den Mund auf. Kurz darauf hätten sie sich nicht einmal mehr schreiend verständigen können, und dabei wurde es immer noch lauter und lauter. Nur dieser eine fortwährende, süße Ton war zu hören der gleichwohl etwas Schreckliches an sich hatte.
Schließlich pulsierte die ganze Luft in der riesigen Halle, und unter ihren Füßen bebte der Steinfußboden. Schließlich gesellte sich noch ein weiterer Klang hinzu: ein unbestimmtes, unheilverkündendes Brausen. Zuerst hörte es sich an wie das Donnern eines in der Ferne vorbeifahrenden Zuges, dann klang es, als stürze irgendwo ein Baum um, und dann hörten sie, wie irgendwo irgend etwas Schweres herunterfiel. Mit einem plötzlichen Donnerschlag und mit einem Beben, das die beiden fast umwarf, stürzte ein Teil der Decke ein. Riesige Steinblöcke fielen herab, die Wände wankten. Die Glocke verstummte, die Staubwolken setzten sich, und alles wurde wieder still.
Ob die Decke nun durch Zauberkraft eingestürzt war oder ob es der unvorstellbar laute Ton der Glocke gewesen war, der den baufälligen Mauern den Rest gegeben hatte, das war nie festzustellen.
»So! Ich hoffe, jetzt bist du zufrieden!« keuchte Polly.
»Na ja, jetzt ist ja alles vorbei«, entgegnete Digory.
Der Meinung waren sie alle beide. Aber da irrten sie sich ganz gewaltig.
DAS UNAUSSPRECHLICHE WORT
Die Kinder standen einander auf beiden Seiten des Glöckchens gegenüber. Zwar schwieg es jetzt, doch es vibrierte noch immer. Plötzlich hörten sie vom anderen Ende der Halle her, von dort, wo sie noch unbeschädigt stand, ein leises Geräusch. Blitzschnell drehten die beiden sich um. Eine der prächtig gekleideten Gestalten erhob sich gerade aus ihrem Stuhl.
Die Frau am Ende der Reihe war es, die Digory so wunderschön gefunden hatte. Als sie aufrecht stand, da sahen Polly und Digory, daß sie sogar noch größer war, als sie gedacht hatten. Nicht nur an ihrer Krone und ihren Gewändern, sondern auch am Blitzen ihrer Augen und an der Linie ihres Mundes konnte man sofort ablesen, daß sie eine mächtige Königin sein mußte. Sie schaute sich in der halb eingestürzten Halle um, dann fiel ihr Blick auf die Kinder. Doch ihr Gesicht blieb unbewegt, und es zeigte keinerlei Überraschung. Mit weit ausholenden, raschen Schritten kam sie näher.
»Wer hat mich erweckt? Wer hat den Zauber gebrochen?« fragte sie.
»Ich glaube, das muß ich gewesen sein«, entgegnete Digory.
»Du?« fragte die Königin und legte die Hand auf seine Schulter–eine wunderschöne weiße Hand, die sich jedoch anfühlte wie eine stählerne Zange. »Du? Du bist doch nur ein Kind, ein ganz gewöhnliches Kind! Gleich auf den ersten Blick kann man sehen, daß in deinen Adern nicht ein einziger Tropfen königlichen oder edlen Blutes fließt. Wie kannst du es wagen, dieses Gebäude zu betreten?«
»Wir sind durch Zauberkraft aus einer anderen Welt hierhergekommen«, erklärte Polly, die der Meinung war, es sei höchste Zeit, daß die Königin nicht nur Digory, sondern auch ihr Beachtung
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