Lewis, CS - Narnia 1
schenkte.
»Stimmt das?« fragte die Königin, zu Digory gewandt, ohne Polly auch nur einen einzigen Blick zuzuwerfen.
»Ja, das stimmt«, bestätigte er.
Die Königin legte ihm die andere Hand unters Kinn und hob es an, damit sie sein Gesicht besser sehen konnte.
Digory versuchte, ihren Blick zu erwidern, aber schon nach kürzester Zeit mußte er die Augen senken, denn in ihren Augen lag etwas, dem er sich nicht gewachsen fühlte. Nachdem sie ihn lange durchdringend angestarrt hatte, ließ sie sein Kinn los und sagte: »Du bist kein Zauberer. Du trägst das Zeichen nicht. Du mußt der Diener eines Zauberers sein. Du bist mit dem Zauber eines Andern hierher gekommen.«
»Mein Onkel Andrew war es«, erklärte Digory.
In diesem Augenblick erklang von draußen, aber ganz aus der Nähe, ein Grollen, ein Knirschen und dann das Krachen einstürzender Mauern. Unter ihren Füßen bebte die Erde.
»Wir sind in großer Gefahr«, sagte die Königin. »Der ganze Palast stürzt ein. Wenn wir nicht schnell von hier verschwinden, dann wird uns das Geröll unter sich begraben.« Sie sprach so ruhig, als rede sie lediglich darüber, wie spät es jetzt sei. »Kommt!« befahl sie und streckte die Hände nach den Kindern aus. Polly schmollte. Sie mochte die Königin nicht, und wenn sie die Wahl gehabt hätte, würde sie deren Hand nicht genommen haben.
Aber obwohl die Königin ruhig sprach, waren ihre Bewegungen so blitzschnell wie ein Gedanke. Bevor Polly wußte, wie ihr geschah, wurde ihre linke Hand von einer so viel größeren und kräftigeren Hand gepackt, daß sie sich nicht dagegen wehren konnte.
Eine schreckliche Frau ist das, dachte Polly: Sie ist so stark, daß sie mir mit einem Ruck den Arm brechen könnte. Und jetzt, wo sie meine linke Hand hält, komme ich nicht mehr an meinen gelben Ring. Und wenn ich versuche, mit der rechten Hand in die linke Tasche zu greifen, dann will sie sicher sofort wissen, was ich da mache.
Was auch immer passieren mag–von den Ringen dürfen wir ihr nichts verraten. Hoffentlich hat Digory so viel Grips, daß er den Mund hält. Wenn ich doch nur ein paar Worte mit ihm reden könnte, ganz allein!
Die Königin führte die beiden aus der Halle mit den Standbildern hinaus in einen langen Gang und dann durch ein Gewirr von weiteren Räumen, Treppenschluchten und Höfen. Immer wieder und wieder war zu hören, wie weitere Mauern des riesigen Palasts einstürzten manchmal ganz in der Nähe. Einmal brach donnernd ein riesiger Torbogen hinter ihnen zusammen, Sekunden nachdem sie darunter durchgegangen waren. Die Königin ging sehr schnell, und die Kinder mußten laufen, um mit ihr Schritt zu halten. Doch sie zeigte keinerlei Furcht.
Digory dachte: Wie mutig sie ist! Und wie stark! Eine richtige Königin! Ich hoffe, sie erzählt uns, was es mit diesem Platz hier auf sich hat.
Ein paar Dinge erzählte sie den Kindern unterwegs tatsächlich. »Diese Tür führt zu den Kerkern«, sagte sie etwa, »und die da drüben zu den Folterkammern.« Oder: Das war die Festhalle, in die mein Vater siebenhundert Edle zu einem Feste lud und alle tötete, noch bevor sie sich sattgetrunken hatten. Sie hegten aufrührerische Gedanken.«
Schließlich kamen sie zu einer Halle, die größer und höher war als alle, die sie bisher gesehen hatten. An der Größe und an den riesigen Toren am anderen Ende meinte Digory ablesen zu können, daß sie endlich am Haupteingang angekommen waren. Und da hatte er ganz recht. Die Tore waren rabenschwarz, und sie mußten aus Ebenholz bestehen oder aus einem schwarzen Metall, das es in unserer Welt nicht gibt. Sie waren mit riesigen Querbalken verschlossen, von denen die meisten so hoch saßen, daß man sie nicht erreichen konnte. Und alle waren sie zu schwer zum Anheben. Wie sollten sie da wohl hin auskommen, fragte sich Digory.
Die Königin ließ seine Hand los und hob den Arm.
Hochaufgerichtet und starr stand sie da. Sie sagte etwas, das die beiden nicht verstehen konnten, doch es hörte sich ganz gräßlich an. Und dann machte sie eine Bewegung, als wolle sie etwas gegen das Tor schleudern. Einen Augenblick lang erbebten die hohen und schweren Türen, als bestünden sie aus Seide.
Dann sanken sie in sich zusammen, bis nur noch ein Häufchen Asche übrigblieb.
Digory stieß vor Bewunderung einen Pfiff aus.
»Hat dieser Meister der Magie, dein Onkel, auch solche Macht wie ich?« fragte die Königin und packte Digorys Hand mit festem Griff. »Doch das werde ich später
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