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Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)

Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)

Titel: Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Aleks Scholz
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können. Allerdings gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher GABA-Rezeptoren mit unterschiedlichen Funktionen, die von den fraglichen Substanzen unterschiedlich beeinflusst werden, sodass bis zur endgültigen Klärung der Ionenkanalfrage wohl noch ein paar Doktoranden verschlissen werden müssen. Außerdem behandelt die GABA-Hypothese nur einige bestimmte Narkosemittel, die direkt in die Blutbahn injiziert werden; über die Angriffspunkte der Stoffe, die inhaliert werden, ist nach wie vor wenig bekannt. Man weiß zwar, dass sie auf viele Proteine in der Zelle irgendeine Wirkung ausüben, es ist aber umstritten, ob gerade dieses Flächenbombardement den Anästhesieeffekt hervorruft oder ob ein Großteil der so beeinflussten Eiweiße dafür völlig irrelevant ist.
    Mit den neuen Erklärungsmodellen der letzten Jahrzehnte kam auch das Ende der «Einheitshypothese der Narkose», der zufolge alle Anästhetika im Wesentlichen gleich funktionieren. Mittlerweile weiß man, dass die Wirkung mancher Anästhetika auf mehreren voneinander unabhängigen Vorgängen beruht, während andere Stoffe nur an bestimmten Stellen anzugreifen scheinen. Es ist also, wie so oft, alles sehr unordentlich eingerichtet.
    Trotz ihrer unterschiedlichen Vorgehensweisen im Hirn ähneln sich die Effekte der diversen Mittel verdächtig. Zwar liegt der Schwerpunkt mal mehr auf der Schmerzausschaltung, mal mehr auf der tiefen Bewusstlosigkeit oder der Muskelentspannung, aber man kommt nicht an der grundsätzlichen Frage vorbei, warum die Körperfunktionen im Verlauf einer Narkose in derselben Reihenfolge wie beim Einschlafen oder einer Ohnmacht abgeschaltet werden. Theoretisch wäre es ja durchaus denkbar, dass zuerst der Geschmackssinn ausfällt, dann das rechte Bein und schließlich das logische Denken, während die Fähigkeit, sich beim Arzt zu beschweren, die ganze Zeit erhalten bleibt. Schon Overton hatte festgestellt, dass die Narkose dem Schlaf so deutlich ähnelt, «dass man ganz unwillkürlich zu der Frage gedrängt wird, ob nicht der natürliche Schlaf durch eine von dem Organismus selbst producirte, narcotisch wirkende Substanz verursacht sein dürfte». Bisher ist es nicht gelungen, eine solche Substanz dingfest zu machen, aber es ist gut möglich, dass Anästhetika nur einen bereits existierenden, evolutionär entstandenen Mechanismus auslösen. Die Überlegungen, welcher Art dieser Mechanismus sein könnte, sind heute nicht viel weiter gediehen als zu Overtons Zeiten.
    Erste Anhaltspunkte, was sich eigentlich im Gehirn während einer Narkose tut, hat man in den letzten Jahren durch verschiedene Experimente mit Verfahren wie der Magnetresonanz- und der Positronen-Emissions-Tomographie gefunden, bei denen man Bilder vom Inneren des Gehirns gewinnt, ohne es vorher in Scheiben zu schneiden. Steckt man Versuchspersonen in einen Tomographen und versetzt sie in Narkose, kann man beobachten, in welcher Reihenfolge die Hirnfunktionen heruntergefahren werden und in welchen Teilen des Gehirns der Stoffwechsel am stärksten herabgesetzt wird. So zeigt sich auch, dass unterschiedliche Anästhetika die Aktivität unterschiedlicher Teile des Gehirns bremsen: Das Narkosegas Halothan zum Beispiel reduziert vor allem die Aktivität in Thalamus und Mittelhirn, den Schaltstellen, die Informationen an die zuständigen Sachbearbeiter in der Großhirnrinde verteilen. Das gebräuchliche Injektionsanästhetikum Propofol dagegen wirkt stärker auf die Großhirnrinde selbst. Es sieht so aus, als gäbe es mehr als eine Möglichkeit, das Bewusstsein kontrolliert abzuschalten, und da die entsprechenden Experimente noch relativ neu sind, kann man bisher bestenfalls vorsichtig vermuten, auf welchem Weg dieser herabgesetzte Stoffwechsel einzelner Gehirnteile zu Bewusstlosigkeit, Schmerzfreiheit und Amnesie führt.
    Dass die Forschung hier in hundertfünfzig Jahren recht überschaubare Fortschritte gemacht hat, liegt nicht – oder zumindest nicht in erster Linie – daran, dass Anästhesisten zu viel golfen und zu wenig forschen. Eigentlich müssten andere Fachbereiche erst einmal herausfinden, wie Bewusstsein, Schmerz und →Schlaf funktionieren. Aber vielleicht ist es ja auch umgekehrt, und die Forschungsarbeiten zur Frage, wie wir das Bewusstsein verlieren, werden dabei helfen, das Bewusstsein zu erklären. Mal sehen, wer schneller ist.

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