Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)
Die infrage kommenden Teilchen führen abenteuerliche Namen, sie heißen Neutralino, Axion, Gravitino oder gar Wimpzilla, und alle existieren sie bisher nur in den Köpfen von Theoretikern. Keines von ihnen wurde bis heute zweifelsfrei nachgewiesen. Diese exotischen, hypothetischen Gestalten fasst man gelegentlich unter dem Begriff WIMPs zusammen – «weakly interacting massive particles» –, und spätestens hier wird deutlich, dass die Erforschung der Dunklen Materie auch ein Kampf um das beste Akronym ist: MOND, MACHO oder WIMP?
In den vergangenen drei Jahrzehnten haben sich die Fronten in der Erforschung der Dunklen Materie mehrfach verschoben. In den 1970ern ging man überwiegend davon aus, es mit baryonischer Materie zu tun zu haben, mit einer Klasse von Objekten also, die man später als MACHOs bezeichnete. In den 1980ern wendete sich das Blatt, jetzt wurden Neutrinos, anschließend «kalte» WIMPs und andere exotische Elementarteilchen populär. Anfang der 1990er kamen die MACHOs zunächst zurück, wurden dann aber in den Folgejahren durch neue Beobachtungen stark beschädigt. Ab und zu waren auch Hybridmodelle gebräuchlich: «Die Welt braucht sowohl MACHOs als auch WIMPs», behauptete etwa der englische Astrophysiker Bernard Carr 1994. Hoffnungsvoll nennen die Experten solche Ideen auch Szenarien mit «zwei Zahnfeen»: Verliert ein Kind nämlich einen Milchzahn, so legt man den Zahn abends unter das Kissen und wartet auf die Zahnfee, die ihn gegen eine Münze austauscht. Ob sich das Problem der Dunklen Materie mit zwei Zahnfeen, also zwei verschiedenen Teilchenarten, loswerden lässt, bleibt abzuwarten.
Ein schönes Beispiel für Modeströmungen in der Erforschung der Dunklen Materie sind die sogenannten Braunen Zwerge. Im Gegensatz zu Sternen besitzen diese Objekte keine innere Heizung. Während Sterne in ihrem Inneren über viele Millionen Jahre Wasserstoff zu Helium «verbrennen», sind Braune Zwerge zu klein, um die für diesen Prozess nötigen Temperaturen zu erzeugen. Daher leuchten sie nur schwach vor sich hin und sind entsprechend schwer zu finden. Wenn ein Stern eine Kerze ist, die beständig und zuverlässig leuchtet, so ist ein Brauner Zwerg ein glühendes Stück Metall, das allmählich immer kälter wird. Seit den 1960er Jahren spekuliert man über Existenz und Eigenschaften von Braunen Zwergen, nur sehen und untersuchen konnte man sie bis vor kurzem nicht, unter anderem, weil die Teleskope zu klein waren. Da man nichts über ihre Anzahl in der Milchstraße wusste, waren sie fast zwei Jahrzehnte lang erstklassige Kandidaten für Dunkle Materie. Noch im Jahr 1994, ein Jahr vor der Entdeckung des ersten Braunen Zwergs, eines Objekts mit der trostlosen Bezeichnung Gliese 229B, nannte Bernard Carr Braune Zwerge die «plausibelste» Erklärung für die große Menge an Unsichtbarem im Weltraum. Innerhalb von wenigen Jahren jedoch zerschlugen sich die hohen Erwartungen, die man in die zwielichtigen dunklen Sonderlinge gesetzt hatte; es wurden zwar zahlreiche Braune Zwerge entdeckt, aber bei weitem nicht genug, um auch nur eine Spur der Dunklen Materie zu erklären.
Ein ähnliches Schicksal wie die Braunen Zwerge erlitten auch die restlichen MACHO-Kandidaten und die Neutrinos: Es gibt diese Dinge zwar, aber rechnet man alles zusammen, so erhält man nur einen geringen Bruchteil der Dunklen Materie. Darum bleibt heute kaum noch ein anderer Ausweg, als an die Existenz von kalter Dunkler Materie in Form von WIMPs oder etwas Ähnlichem zu glauben – Elementarteilchen, die sich dem Rest des Universums fast ausschließlich über ihre Schwerkraft mitteilen. Worum es sich dabei genau handelt, weiß bisher niemand. Deshalb war es ein aufregendes Ereignis, als ein Forscherteam um Rita Bernabei Ende der 1990er Jahre zum ersten Mal Dunkle Materie auf der Erde nachgewiesen haben wollte. Mit Hilfe von schweren Salzkristallen, die man tief in den italienischen Apenninen vergrub, um sie vor störender Strahlung abzuschirmen, fand man ein Signal, das man auf den Einschlag von bislang unsichtbaren Teilchen in den Salzkristall zurückführte. WIMPs zum Anfassen, mitten in Europa? Leider überstand die sensationelle Meldung nicht die nachfolgenden kritischen Überprüfungen. So bleibt alles beim Alten, und der Begriff «Dunkle Materie» ist, wie der amerikanische Astronom David B. Cline zugibt, weiterhin ein inhaltsloser «Ausdruck für unser Unwissen».
Übrigens: Das Universum besteht, wie man mittlerweile weiß,
Weitere Kostenlose Bücher