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Licht

Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Meckel
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Einzelheiten, die ich vergessen habe. Sie um deretwillen mir Vergangenheit wichtig wird, spricht von gemeinsamen Erlebnissen, ohne zu ahnen, daß mir nichts Gemeinsames mehr wirklich erscheint. Wir beide sprechen, als handle es sich um etwas Uneingeschränktes, und wir wissen beide, daß dies nicht der Fall ist. Wir kamen bei Dunkelwerden nach Hause, trockneten die Haare und tranken Schnaps in der Küche (wir haben es immer so eingerichtet, daß wir im letzten Licht nach Hause kommen).
    Wir sprachen von unseren Touren in die Provinz und erinnerten uns an die Namen der Dörfer: Berignol, Tamisat, Barandin-les-fleuves. Schon die Namen waren zauberhaft. Mauviron. Denkst du noch an den Sommer in Mauviron? Die Vogelbeerbäume an der Straße nach Mauviron und die Weinhügel dort, die Mostapfelgärten in der Ebene und die westlichen Berge unter dichtem Gestrüpp. Erzähl mir von Mauviron! Was soll ich erzählen. Wir hatten ein Haus auf dem Hügel gemietet, weil es von Akazien umgeben war. Die Fenster reichten vom Boden zur Decke, und das Treppengeländer bestand aus rostigen Eisenstangen. Die Küche war wie ein Swimmingpool grün gestrichen, die beiden Zimmer darüber waren leer, weiße Wände mit Nägeln in Augenhöhe, ein Bett, ein Tisch, drei Stühle und ein büffetartiges Möbel für die Kleider. Bücher und Zeitschriften lagen auf der Treppe. Die Fenster waren bei Tag und Nacht geöffnet, auch wenn das Haus in Regen und Nebel schwamm. Dole saß auf der Eisenstange ihres Fensters und beobachtete die Akazien, deren Blätter sich ununterbrochen bewegten, auch an Tagen ohne Luftbewegung, in der Windstille, flirrende, flatternde Blätter des Jesusdorn und ihre über die Hauswand rieselnden Schatten. Wenn der Nordwind durch die Blätter rannte, fühlte sie sich auf unerklärbare Weise wohl (ich hatte mich daran gewöhnt, daß ihre Gefühle unerklärbar waren). Leichtigkeit ihres Körpers im Licht, Haut und Haare aus Luft und das Gefühl, kurz vorm Fliegen zu sein, jetzt gleich fortfliegen zu können, in dieser Sekunde – so daß sie ganz still auf der Eisenstange saß und zu erfassen versuchte, was der Wind mit ihr und den Blättern machte. Wenn der Wind aussetzte, das Geräusch aus den Blättern fiel, war sie enttäuscht, als sei sie geliebt und sofort verlassen worden. Sie überlegte, allein und mit mir zusammen, womit das Geräusch bewegter Akazienblätter zu vergleichen sei. Ihr fielen Maisblätter ein und verbranntes Papier, sie dachte an Regen auf Heu oder Stroh. Wir verglichen das Geräusch mit dem Knistern von Seide, Rauschgold und Krepp, mit dem Rascheln von Schokoladenpapier, getrockneten Blumen, Zuckertüten, Luftpostzeitungen und Brausetabletten, die in zu wenig Wasser schäumten. Aber das war es noch nicht, das war nicht genau genug, und wir überlegten wochenlang, woran uns das Rascheln von Akazienblättern erinnere. Das Gedächtnis schien den Vergleich bereit zu halten, es fehlte ein Zufall, der ihn deutlich machte. Zwei Monate später war der Zufall da. Wir gingen zwischen Dörfern der Ile-de-France, an pappelbestandenen Wassergräben entlang und kamen an einen von Mauern eingeschlossenen Besitz. Pfauenschreie hallten im Viehhof. Pfauen sind blühende Hühner, sagte Dole, aber die Schreie, diese Schreie sind Gottgewimmer. Zwischen einzementierten Glassplittern auf der Mauer stand ein Pfau. Als wir uns näherten, fing er zu bäumen an. Über dem von Eitelkeit gespannten, auf der Stelle tretenden Körper richtete sich die Schleppe auf und wurde zum Rad, das geräuschvoll vibrierte. Hohläugige Federn, Spitzbartfedern, Mistkäferfarben, Regenbogenwedel! Die von anmaßender Kraft in Bewegung gesetzten, wippenden und zitternden, aneinander reibenden Federn wiederholten das Geräusch von Akazienblättern im Wind. Dole drückte die Augen zu, weil sie glaubte, nicht ertragen zu können, was sie sah, und nicht sehn wollte, was hier zu hören war: ihr persönliches, bisher unvergleichbares Geräusch. Vielleicht war dieser Augenblick das Glück. Glück wollte zu viel oder zu wenig, es war noch immer das falsche Wort gewesen, aber hier, während der Pfau das Geräusch vormachte (und ich mich zu erinnern versuchte, wo ich Pfauenfedern schon mal gesehn hatte – in einem Casino in Wien? im Cafe Dante in Verona?) empfand sie mehr Freude, als zu ertragen war. Das Geräusch ließ nichts von ihr übrig. Sie hielt sich an mir fest und wollte weg. Dann öffnete sie die Augen und wir beobachteten den Pfau, dessen Schleppe

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