Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
im Wasser, und der ist so tot wie Sie, wenn Sie nicht bald jemanden vorbeischicken.«
»Beruhigen Sie sich, Mrs. Croydon. Ich muss Ihnen diese Fragen stellen. Sie glauben nicht, was ...«
Die Anruferin unterbrach ihn ungeduldig: »Papperlapapp. Was ist, kommen Sie?«
Sellick atmete auf. Carol kehrte endlich mit zwei Pappbechern und einer braunen Tüte an ihren Platz zurück. »Wo sind Sie jetzt, Mrs. Croydon?« Er notierte die Adresse und verabschiedete sich: »Bleiben Sie bitte dort. Wir sind sofort bei Ihnen.«
Carol schob ihm einen der heißen Becher hin. »Wieder die Vandalen?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf, während er die Nummer des Notarztes wählte. »Wasserleiche bei den Reculver Towers«, erklärte er schnell, bevor sich die Einsatzleitung meldete. Fünf Minuten später fuhr er hinter dem Rettungswagen auf der A28 nach Norden. Carol musste den Kaffee allein trinken.
»Das hat ja gedauert«, empfing sie Mrs. Croydon ungehalten.
Sellick wusste jetzt, dass sie Lehrerin an der Grundschule war und genau so verhielt sie sich. So stellte er sich eine Lehrerin vor, in deren Klasse er lieber nicht sitzen wollte. »Wir kamen, so schnell wir konnten«, versuchte er zu beschwichtigen. »Steigen Sie bitte ein und zeigen Sie uns die Stelle.«
Der Fundort lag genau bei der Ruine des alten Klosters. Die sensationelle Neuigkeit hatte sich offenbar herumgesprochen, und das gefiel ihm gar nicht. Ein halbes Dutzend Neugierige standen am Damm und auf den Felsen. Spuren eines Verbrechens, falls es denn eines war, konnten sie unter diesen Umständen vergessen.
»Am Ende des Damms, zwischen den Felsen«, sagte Mrs. Croydon, als sie ausstiegen.
»O. K., Sie bleiben bitte hier. Zurücktreten, Leute. Bitte treten Sie hinter die Wagen zurück, sonst behindern Sie die Polizeiarbeit.« Er stieg mit dem Arzt auf die Felsen. Sie kletterten bis ans Ende des Damms und schauten sich verblüfft an. Weit und breit war nichts von einer Leiche zu sehen.
»Scheint wasserlöslich zu sein«, grinste der Arzt.
Sellick blickte mürrisch aufs Meer hinaus. »Finde ich gar nicht witzig.« Es blieb ihm nichts anderes übrig: Er musste ein ernstes Wort mit der strengen Mrs. Croydon reden.
Sie empfing ihn mit rotem Kopf. »Die Leute behaupten, es gäbe keine Leiche«, sagte sie schnippisch. Es klang wie ein Vorwurf.
»Er war tot, ganz sicher«, ereiferte sich der kleine Mikey, der sich trotz Mrs. Croydons Verbot wieder zu den Gaffern gesellt hatte.
Sellick zählte innerlich bis fünf, dann beugte er sich zum Knaben hinunter und fragte ruhig: »Was hast du denn genau gesehen. Erzähl mal.«
Mikey ließ sich nicht zweimal bitten, ignorierte den strafenden Blick seiner Mutter und berichtete ausführlich über seinen fantastischen Fund. Sellick begriff, dass der Junge eine lebhafte Fantasie hatte, aber die Schilderung deutete auch auf eine gute Beobachtungsgabe hin. Unsicher, ob er der Beschreibung glauben sollte, wandte er sich wieder an Mrs. Croydon, die ihm diesen Einsatz eingebrockt hatte:
»Tatsache ist, dass hier keine Leiche zu finden ist. Wenn es stimmt, was Sie sagen ...«
»Hören Sie«, brauste die Frau auf. »Ich weiß, was ich gesehen habe, und ich bin nicht betrunken oder bekifft. Da draußen am Ende des Damms lag ein dunkelhäutiger, schlanker Mann mit glänzend schwarzem Haar im Wasser. Ich habe sein Gesicht nicht gesehen, aber es muss ein Inder oder Pakistani oder etwas Ähnliches gewesen sein. Ich weiß auch nicht, wie er es geschafft hat, zu verschwinden, aber ich weiß, dass er vor einer Stunde noch da war.«
»Vielleicht die Strömung«, meinte Mikey mit Kennermiene. »Die Flut ist vorbei, das Wasser fließt zurück ins Meer.«
»Das Wasser ist das Meer, Dummkopf«, lachte sein großer Bruder.
»Brauchen Sie uns noch?«, wollte der Arzt wissen.
»Sieht nicht danach aus.« Kurz bevor die Tür des Rettungswagens zuschlug, fügte er hinzu: »Danke, Doktor.« Er beschloss, die Lehrerin und ihre aufgeweckten Jungen ernst zu nehmen, obwohl die Tatsachen gegen sie sprachen. »Ich werde eine Suche veranlassen, Mrs. Croydon. Mehr kann ich im Moment nicht tun, wie Sie sehen. Ich muss Sie bitten, morgen bei uns auf dem Revier vorbeizukommen, um das Protokoll zu unterschreiben.«
Sie nickte, nahm den Kleinen bei der Hand, versetzte dem Grossen einen leichten Stoß und machte sich mit den andern auf den Heimweg ins Dorf. Sellick holte den Fotoapparat, Pflöcke und die blau-weiße Rolle aus dem Wagen. Er dokumentierte die
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