Lichthaus Kaltgestellt
kennen könnte. Das ist ein Strohhalm.«
»Unsinn, das ist die einzige konkrete Spur, die wir haben, und ich denke nicht daran, sie leichtsinnig zu verspielen.«
»Fallen Sie doch nicht in blinden Aktionismus. Sie …«
»Der Mann ist äußerst gefährlich.«
Müller winkte ab und schaute zum Fenster. Er war auf einmal ganz ruhig, und Lichthaus wusste, dass er verloren hatte. »Sie sollten ihn auch mit weniger Leuten festnehmen können, immerhin rechnet er nicht mit dem Einsatz. Konzentrieren Sie sich auf die Wiese. Ich gebe Ihnen noch drei Teams zusätzlich und die Technik. Das muss reichen.«
Lichthaus resignierte. »Wie Sie wollen. Den Einsatzplan lege ich Ihnen zur Unterschrift vor, da das so nicht meinen Vorstellungen entspricht.«
Müller schaute nicht mal auf. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können.«
Lichthaus ging und fluchte leise über Müllers Kurzsichtigkeit. Doch er würde sich nicht beirren lassen.
*
Ihr Sterben dauerte nun schon vierundzwanzig Stunden und würde bald zu Ende sein. Sie befand sich an der Schwelle zum Tod, und der kurze Moment, in dem Schmerzen bedeutungslos werden, sich die Kaskaden im Hirn ein letztes Mal ergießen, war gekommen. Jetzt fühlte sie sich leicht und frei, schwerelos in der Achterbahn ihres Lebens. Er vergewaltigte und erwürgte sie zugleich, aber das Martyrium war fast vorbei. Anfangs hatte sie sich noch gewehrt, ihn mit verbundenen Augen sogar angespuckt, doch als er ihr daraufhin die Schneidezähne ausschlug, begann ihr Widerstand zu bröckeln und löste sich in einer Hölle aus Schmerzen und Demütigungen vollständig auf.
Alles zog in Sekundenbruchteilen an ihr vorbei. Mama, Papa, die Großeltern, Klassenkameraden und alle, die eine kleine oder auch große Rolle in ihrem Leben gespielt hatten. Hunderte von Ereignissen. Und immer wieder Sandrine. Ihre Liebe. Zu kurz war die Zeit gewesen, die ihnen das Schicksal vergönnt hatte, zu kurz die Zeit, in der sie ganz zu sich selbst gestanden hatte. Sandrine hatte es ihr beigebracht.
Er lockerte ein wenig den Griff um ihren Hals, und etwas Sauerstoff schwappte in ihre Lungen, bevor er nochmals zudrückte.
Der Schmerz kam zurück, doch schon bald driftete sie wieder hin zu dieser Schwelle.
Sie erlebte noch einmal den Tag, an dem Sandrine in die Boutique gekommen war. Groß mit langen Beinen, schmalen Hüften und satten Brüsten, einem Madonnengesicht mit grünen Augen. Ihr kastanienbraunes Haar war zu einem Zopf geflochten. Andy, der Besitzer der Boutique, war wie ein Blitz auf sie zugeschossen, die gestählten Muskeln aufgepumpt wie ein Hirsch in der Brunftzeit, doch Sandrine hatte durch ihn durchgeschaut und nur Augen für sie gehabt. Dessous hatte sie anprobiert, hatte sie um Rat gefragt und sie immer wieder fixiert, einmal leicht berührt. Dann war sie gegangen und hatte sie aufgewühlt zurückgelassen, unsicher in ihren Empfindungen und traurig wie nach einer verpassten Chance.
An diesem Abend hatte sie wild mit ihrem Freund geschlafen, sich gewehrt gegen den Sog der Gefühle und sich auch beruhigt. Doch nur wenige Tage später sprach Sandrine sie nach der Arbeit an, locker, so wie sie die Übersetzungen simultan vom Französischen ins Deutsche machte, drüben bei der EU. Sie nahm ihre Einladung zum Essen an, ganz selbstverständlich. Es wurde ein toller Abend. Auf dem Weg zurück legte ihr Sandrine die Arme um die Schultern und küsste sie mit einer Leidenschaft, die sie bis dahin nicht gekannt hatte. Sie glaubte, den Kuss zu schmecken.
Ihr Herz tat den letzten Schlag und ihre Muskeln erschlafften. Das Gesicht der Freundin war das Letzte, was sie im beginnenden Vergessen wahrnahm.
Der Tod war da.
*
Am nächsten Morgen war Lichthaus erst gegen neun im Präsidium. Er hatte mit Claudia noch ausgiebig gefrühstückt und sich schweren Herzens von ihr und Henriette verabschiedet. Claudia weinte, als er schließlich abfuhr, und ihre Tränen brannten noch immer in seinen Gedanken, als er den Gang entlangkam und Marx schon auf ihn wartete.
»Wir haben ein vermisstes Mädchen. Karla Springer.«
»Etwas für uns?« Sein Ton war unfreundlich.
Marx schaute ihn gereizt an. »Sonst wäre ich nicht hier.« Er folgte Lichthaus in sein Büro.
Lichthaus schob die Unterlagen der Überwachung in Manderscheid auf die Seite und notierte sich die Einzelheiten, die Marx berichtete, bis sie zum Sportcenter in der Metternichstraße kamen, wo Karla Springer zuletzt gesehen worden war.
»Was? Da sind Steinrausch und ich an
Weitere Kostenlose Bücher