Die Unsterblichen: Roman (German Edition)
1
Der Gedanke kam erst, lange nachdem sie eingeschlafen war. Da hatte er sich schon mindestens eine Stunde im Bett hin und her gewälzt. Seine alte Mutter mußte ins Pflegeheim, diese Entscheidung war nun endgültig, und damit war die Trennung von ihrem Mann unausweichlich. Der Pflegedienst sah sich nicht mehr in der Lage, die prekäre Situation im Brenner-Haus zu verantworten, zu viele Stürze hatte es gegeben, zu viele Auseinandersetzungen, zu viel Streit und Zank; eine solche Verantwortung konnte man nicht länger übernehmen.
Aber es war nicht nur der Gedanke an die Situation von Mutter und Vater, der Thomas wach hielt. Es war eine Sache, die etwas früher passiert war, als er neben Elisabeth im Bett gelegen hatte und sie miteinander redeten. Das machten sie nun öfter, seit sie nicht mehr arbeitete und mehr Zeit für solche Gespräche blieb, obwohl sich an seiner Arbeitssituation als Arzt nichts verändert hatte und er genauso zeitig wie immer aufstehen mußte. Durch diese Gespräche fühlte er sich ihr wieder näher, das war neu. All die Jahre hatten Annika und Line sie voll und ganz beansprucht, und sie hatten sich damit klaglos abgefunden.
Sie bemühten sich, dem anderen zu zeigen, daß zwischen ihnen nach wie vor eine starke Bindung existierte. Kleine Zärtlichkeiten, freundliche Worte. Und seit kurzem hatten sie begonnen, wieder andere Seiten voneinander zuzulassen. Sie entdeckten die alten Bedürfnisse, physische wie psychische, die für ihre Beziehung wichtigwaren. Eine Beziehung, die jetzt fast vierzig Jahre dauerte und wahrscheinlich noch viele Jahre dauern würde, wenn sie zu den Glücklichen zählten, die zusammen alt wurden. Auch daran hatte Thomas Brenner in dieser Nacht gedacht, obwohl er wußte, daß die Zeitdimension nicht unbedingt Glück bedeutete, wie er bei seinen Eltern sah, mit all den oft grotesken Schwierigkeiten für die Alten ebenso wie für die Angehörigen.
Aber an all das zu denken war für sie beide längst zur Gewohnheit geworden, das war es also nicht, was Thomas Brenner an diesem Herbstabend des Jahres 2009 nicht einschlafen ließ, als er das Rauschen in den Rohren hörte und wußte, daß die altmodische Zentralheizung ansprang, weil es draußen kälter geworden war. Zuerst war der Gedanke gar nicht klar, war gleichsam noch nicht ins Bewußtsein gedrungen, so als hätte ihn das Unterbewußtsein gedacht. Er verspürte nur ein Unbehagen, die Art von Unbehagen, wie es manchmal bei der Behandlung eines Patienten auftauchte, daß da etwas nicht stimmte, daß den Laborwerten nicht zu trauen war, daß ein Grund bestehen mußte, warum ihn der Patient aufgesucht hatte und beunruhigt war. Und wenn ihn diese Unruhe ansteckte, war das für ihn ein Anlaß zur Sorge. Und jetzt empfand er diese Unruhe, und deshalb wälzte er sich im Bett hin und her.
Aber wer hatte ihn angesteckt? An wen hatte er an diesem Abend gedacht außer an Elisabeth? Er hatte ihre Brust gestreichelt. Mehrmals. Und plötzlich war ihm, als hätte er unter der Haut etwas gespürt, von dem sie anscheinend nichts wußte oder nichts wissen wollte. Einen Knoten. Fest und unverkennbar.
In dem Moment schob sie seine Hand weg. Das konnte zufällig sein. Das konnte auch mit Absicht geschehen sein. Daß sie gemerkt hatte, daß er etwas getastet hatte, vondem sie nicht wollte, daß er sich darum kümmerte. Denn so war es üblich zwischen ihnen, dachte er. Diese Rücksichtnahme war die Stärke ihrer Beziehung. Was aber ganz plötzlich zu einer Schwäche werden konnte. Er dachte wieder an den Knoten. Sie muß da etwas unternehmen, dachte er und schlief ein.
Es war am nächsten Tag, nachmittags, gerade als er im Wartezimmer der Gemeinschaftspraxis, in der er arbeitet, seine alte Schulfreundin Mildred Låtefoss erblickte, daß er ihn wieder spürte, diesen veränderten Herzrhythmus, kräftige Schläge, die in Wellen kamen und den Puls erhöhten. Er wollte gerade die junge Mutter mit dem Kind hereinrufen, die sich angemeldet hatte und schon über eine Dreiviertelstunde wartete. Doch der Anfall war so stark, daß er, statt sie mit der Hand hereinzuwinken, nur murmelte »einen Augenblick«, um dann zurück in sein Sprechzimmer zu gehen und hinter sich die Tür zu schließen. Er spürte, wie der Schweiß kam und gleichzeitig die unvermeidliche Schwäche, die er auch beim letzten Mal gespürt hatte und die ihn zwang, sich wieder auf seinen Stuhl zu setzen. Abwesend und beklommen starrte er hinaus in den Oktobertag vor dem Fenster,
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