Lichtlos 2 (German Edition)
sagen würden, wenn sie nicht dazu gezwungen wären. Sie spucken das Blut und die Wörter aus, und ihre Münder sind tagelang so wund, dass sie nichts essen können. Sie wagen keinen dritten Versuch, es uns zu sagen. Wir wollen auch gar nicht, dass sie es versuchen. Wir brauchen es nicht zu wissen. Es spielt keine Rolle. Dadurch, dass wir es wüssten, würde sich nichts ändern .«
Wir brauchen wieder einen Moment Stille.
Boo wendet sich von Ork ab und spaziert durch den Gang auf die Türen zu, die Jolie nicht aufstemmen konnte.
Nach einer Weile komme ich auf unser vorangegangenes Thema zurück. »Herrschaft. Gehorsam. Aber warum ?«
»Wie ich schon sagte: Aufgrund seines Äußeren muss er durch uns leben, mich und meine Familie. Er kann essen, er kann trinken. Aber es gibt so vieles, was er nicht tun kann. Er ist wie eine Auster oder so was, und dieses Haus auf dem Hügel ist seine Schale. Er sagt uns, wir sind sein Sensorium .«
Jolie hebt den Kopf – ihre Augen haben das Grün von Lotosblättern angenommen. Sie hört auf, an ihrer Jeansjacke zu zupfen. Wie Tauben, die sich auf einer Stange niederlassen, legen sich ihre Hände auf ihre Knie. Ihr linkes Auge zuckt nicht mehr. Es quält sie, und es wühlt sie auf, vom Leiden ihrer Tante und ihres Onkels zu sprechen. Ich glaube, auch dieses Thema quält sie und wühlt sie auf, vielleicht sogar in einem noch höheren Maß. Aber um überhaupt darüber zu sprechen, muss sie sich selbst mit einer Art yogischer Anwendung von Willenskraft eine heitere Ruhe auferlegen, die es ihr gestattet, die Umstände aus der klareren höheren Luft zu kommentieren, die über jedem Unwetter und über jedem Schatten liegt.
Sie sagt: »Du weißt, was ein Sensorium ist ?«
»Nein .«
»Wie der Sinnesapparat des Körpers. All die Sinnesorgane und Nerven. Durch mich – durch uns – ist er fähig, die Welt zu haben, in der er sich nicht mehr blicken lassen kann. Nicht nur die Reize für Augen und Ohren und Geschmacksnerven, sondern all das aus vielen verschiedenen Perspektiven, aus all unseren Perspektiven und nicht nur aus einer. Und was er dort in seiner Muschelschale, in seinem ekelhaften Körper, den niemand ansehen und den keine Hand berühren wollen würde, nicht erleben kann, kann er fühlen, indem er in uns lebt, indem er fühlt, was wir fühlen, indem er unsere Empfindungen teilt und von uns verlangt, dass wir ihm jeweils genau die Erfahrung liefern, die er sich in einem bestimmten Moment gerade am meisten wünscht. Im Winkel gibt es keine Privatsphäre. Es gibt keinen Ort in unseren Herzen, an dem wir allein sein können, um uns selbst zu bemitleiden. Oder damit das heilen kann, was er uns als Letztes angetan hat. Er verkriecht sich dort gemeinsam mit dir. Er trinkt deinen Kummer, und er verspottet deine Hoffnung auf Heilung .«
Ich bin tief erschüttert.
An gelebten Jahren ist sie zwölf, aber emotional ist sie älter und intellektuell noch älter.
Im Vergleich zu ihrer immensen Kraft bin ich schwach. Ich bin ein linkischer Grillkoch, der versucht, mit seinem seltsamen sechsten Sinn das Beste anzufangen, was er zustande bringt, aber sie ist Jeanne d’Arc, die ohne realistische Erfolgschancen kämpft, nicht für ihr Land, sondern für ihre Seele – während Hiskott in der Reichweite seiner Kraft und in Anbetracht seiner Grausamkeit ein noch imposanterer Gegner ist als selbst die englischen Truppen. Jolie, die diesen Krieg mit den unzulänglichen Waffen und Abwehrkräften eines siebenjährigen Kindes begonnen hat, hat durch nichts anderes als ihre Ausdauer triumphiert, hat über fünf lange Jahre hinweg Tag für Tag die Belagerung von Orleans aufgehoben, und mir scheint es, als befände ich mich in Gegenwart von einer, die eine zukünftige Heilige sein könnte.
Jetzt erst verstehe ich voll und ganz, warum sie keine Angst vor Ork hat. Vielleicht fürchtet sie sich vor gar nichts.
Am Ende des Flurs steht Boo mit gesenktem Kopf und neugierig vor der verschlossenen Doppeltür aus Edelstahl.
Jolie sagt: »Wo du jetzt hier bist … wenn Hiskott diesmal versucht, von mir Besitz zu ergreifen, während ich außerhalb seiner Reichweite bin und er mich nicht finden kann … tja, dann wird er mich töten, sobald ich wieder auftauche .«
»Dann wirst du hierbleiben, bis ich ihn unschädlich machen kann .«
»Ich kann nicht immer und ewig hierbleiben « , sagt sie.
»Und ich habe keine Ewigkeit Zeit. Heute. Es muss heute geschehen – je eher, desto besser .«
Sie hat ihre
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