Lichtlos 2 (German Edition)
Aber wenn ich dir das sage, will ich nicht, dass es dich noch mehr belastet. Du hast schon genug Sorgen .«
»Sag es mir trotzdem. Ich mache mir mit Begeisterung Sorgen. Darin bin ich richtig gut .«
Sie zögert. Aus einer Hüfttasche ihrer Jeans zieht sie eine schmale Brieftasche, klappt sie auf und zeigt mir eine Fotografie von einem gut aussehenden Jungen von etwa acht Jahren.
»Ist das Maxy ?«
»Ja. Hiskott hat gesagt, Maxy müsste sterben, weil er zu schön war. Er war wirklich ein goldiger kleiner Junge. Daher sollen wir glauben, es sei Neid, weil Hiskott sich in etwas Superhässliches verwandelt hat. Aber ich glaube nicht, dass er Maxy deshalb getötet hat .«
Obwohl sie schon ziemlich abgehärtet ist, lässt der Kummer Jolie verstummen. Ein Zittern um ihren Mund herum stellt ihre Fassung auf die Probe, doch sie presst ihre Lippen aufeinander und steckt das Foto des verlorenen Jungen wieder weg.
»In der letzten Zeit « , fährt sie fort, »hat er uns alle verhöhnt und meine Familie dafür benutzt, mir zu sagen, ich sei schön, noch schöner als Maxy. Er versucht, mir Angst einzujagen und alle anderen mit dem Gedanken zu quälen, dass er sie dafür benutzen wird, mich zusammenzuschlagen und in Stücke zu reißen, wie er sie schon benutzt hat, um Maxy zu töten. Aber es ist eine Lüge .«
»Was ist eine Lüge ?«
»Ich bin nicht schön .«
»Aber, Jolie … du bist wirklich schön .«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich sehe nichts davon. Ich glaube nicht daran. Ich weiß, dass es eine Lüge ist. Ich kann nicht schön sein. Nicht nach dem, was ich getan habe .«
»Was soll das heißen ?«
Mit einem Fuß schiebt sie eine zusammengefaltete Umzugsplane näher zu Ork. Sie kniet sich darauf und starrt in das verschrumpelte Gesicht des Geschöpfs hinunter.
Als sie weiterspricht, ist ihre Stimme beherrscht und lässt keine starken Gefühle zu, die ihren Worten wohl eher angemessen wären, sondern nur eine stille Melancholie. »Es beginnt, und es ist schrecklich. Ich schreie sie an, sie sollen aufhören, ich flehe sie an. Einer nach dem anderen gehen sie alle auf Maxy los – meine Familie, seine Familie. Und sie haben versucht, einander zurückzuhalten. Sie haben es wirklich versucht. Aber Hiskott bewegt sich so schnell, schlüpft von diesem in jenen, dass man nie weiß, wohin er als Nächstes geht. Diese brutalen Tritte, Hiebe, das Zudrücken. Maxys Blut … auf allen. Ich kann sie nicht zurückhalten, Maxy ist schon fast tot, und ich muss weglaufen, ich kann es nicht ertragen, das Ende zu sehen .«
Ohne sichtlichen Widerwillen und mit bedächtiger Zartheit hebt Jolie die Hand, mit der der mumifizierte Kadaver, für einen Moment beseelt, auf den Boden gepocht hatte.
Sie untersucht die sündhaft langen Finger und sagt: »Ich will weglaufen, aber dann stehe ich über Maxy, und ich weiß nicht, woher ich das Messer habe, das ich in der Hand halte. Ein großes Messer. Er ist noch nicht ganz tot, fassungslos und nur halb bei Bewusstsein. Er ist erst acht. Ich bin neun. Er erkennt mich. Seine Augen werden für einen Moment klar. Ich steche das Messer einmal in ihn und dann noch einmal. Und noch einmal. Und damit ist es um ihn geschehen .«
Ihr Schweigen hat eine solche Dichte, dass ich einen Moment lang nicht fähig bin, Worte hineinzuzwängen. Aber dann: »Das warst nicht du, Jolie .«
»In gewisser Weise war ich es .«
»Nein, du warst es nicht .«
»In gewisser Weise « , beharrt sie.
» Er hat dich beherrscht .«
Mit kummervoller Stimme und in Worten, die zu reif für ihr Alter sind, sagt sie: »Aber ich habe es gesehen. Es gelebt. Ich habe gefühlt, wie sich Fleisch und Knochen dem Messer widersetzen. Ich habe gesehen, dass er mich gesehen hat, während das Leben in seinen Augen erloschen ist .«
Ich habe das sichere Gefühl, dass sie es sich nicht gestatten wird, sich wie vorhin umarmen zu lassen, wenn ich neben ihr auf meine Knie sinke und sie zu trösten versuche. Sie wird sich mir krampfhaft entwinden, und das Band zwischen uns wird beschädigt sein. Das ist ihr Kummer, an den sie sich zu Ehren ihres ermordeten Cousins klammert, und das ist ihr Schuldbewusstsein, das, wenn auch unverdient, für sie vielleicht ein Beweis dafür ist, dass sie trotz allem, was sie zu tun gezwungen wurde, immer noch menschlich ist. Ich kenne mich sehr gut mit Kummer und Schuldbewusstsein aus, aber während dies zwar wie mein Kummer und mein Schuldbewusstsein sein mag, ist es nicht meines, und ich habe kein Recht,
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