Das Wahre Spiel 01 - Der Königszug
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Königsblut Vier
»Totem auf Königsblut Vier.« Im selben Augenblick, als ich die Worte aussprach, wußte ich, daß es falsch war. »Nein!« sagte ich.
Spielmeister Gervaise pochte mit der eisernen Spitze seines Stockes auf den Steinboden, während er ungeduldig nach einer hochgezogenen Augenbraue in unseren Gesichtern oder einer erhobenen Hand forschte. »Nein?« wiederholte er. Von den drei Spielmeistern in Mertynhaus mochte ich Gervaise am liebsten.
»Als ich ›nein‹ sagte, meinte ich damit, daß die Antwort nicht ganz richtig ist.« Hinter meinem Rücken schnaubte Karl Schweinsgesicht verächtlich, wie immer, wenn er sich anschickt, mich niederzumachen, aber Spielmeister Gervaise ließ ihm keine Gelegenheit dazu.
»Das stimmt«, sagte er. »Es stimmt, daß sie nicht ganz richtig ist und sich als verhängnisvoll erweisen könnte. Diesen Zug hatten wir zuvor noch nie, laß dir also Zeit zum Nachdenken. Bevor du entscheidest, wie du ziehen willst, bedenke stets, wer du bist.« Er wandte sich von uns ab und schritt, mit dem Stab auf den Fußboden pochend, quer durch das Turmzimmer zu dem hohen Fenster, das die Sicht über die dunkle Erhebung von Havadhaus hinunter zum Fluß Reave freigab, der sich wie ein verblaßtes Band zwischen den anderen Schulhäusern hindurchschlängelte – jedes mit Schülern so voll wie ein Hund mit Flöhen, wie Bruder Chance zu sagen pflegte. Überall auf dem hügeligen Gelände zwischen den Schulhäusern lagen Wohngebäude und Läden, schmiegten sich dicht die Hügel hoch bis hinüber zu den verriegelten Festivalhallen und zerstreuten sich dann zwischen den Feldern, die zur Schulstadt gehörten und die bis zu dem unbesiedelten Land am RANDE reichten. Ich spähte über die Schulter von Spielmeister Gervaise nach der fernen, dünnen blauen Linie, die die Grenzen des Wahren Spieles markierte. Karl räusperte sich wieder, und ich wußte, wenn ich nicht schnell eine Lösung fände, ließe sein Spott nicht mehr lange auf sich warten. Ich fand sie aber bestimmt nicht, indem ich die Schulstadt betrachtete.
Ich wandte mich wieder dem Spielmodell zu, das in eisigem Dunst schwimmend vor uns in der Luft hing. Irgendwo in der Mitte des Modells, zwischen den Spielfiguren, die in dem ihnen eigenen Licht glühten oder in ihrem eigenen Schatten verschwanden, irgendwo in dem Modell befand sich die Domäne, das Zentrum, der Ort der Macht, wo ein Zug von Bedeutung sein konnte. Auf unserer Seite, der Schülerseite, zeichnete sich ein Dämon auf einem Viereck der Dritten Ebene ab, der einen langen, geflügelt aussehenden Schatten warf. Zwei mit Fangzähnen bewehrte Tragamore bewachten das Gebiet von beiden Seiten. Vor ihnen stand die einzig sichtbare Figur von Spielmeister Gervaise, der König, umgeben von rötlichem Licht. Er stand auf Königsblut Vier, einem imperativen Platz – es bedeutete, daß ich ziehen mußte. Keine der Schlachtfiguren eignete sich dazu; ich mußte etwas ähnliches wie Totem nehmen. Hinter dem König konnte sich so gut wie alles verbergen, und Spielmeister gaben keine Hinweise. Etwas ähnliches, von gleichem Wert, etwas wie … Plötzlich fiel es mir ein.
»Talisman«, platzte ich heraus. »Talisman auf Königsblut Vier.«
»Gut.« Gervaise lächelte tatsächlich. »Jetzt sag mir, warum.«
»Weil unsere Seite nicht erkennen kann, welche Figuren sich hinter dem König verbergen könnten. Talisman ist eine Figur, die absorbiert, sie wird das Spiel des Königs egalisieren. Totem ist eine reflektive Figur. Sie würde des Königs Spiel vervielfältigen, es ringsum verteilen. Dadurch würden wir vielleicht Figuren verlieren …«
»Vollkommen richtig. Jetzt stellt euch einmal folgendes vor. Hier haben wir den König, den dauerhaftesten der unnachgiebigen Figuren, dessen Blut oder Wesen rotes Licht ist. Dort sehen wir einen Dämon, den mächtigsten der vergänglichen Figuren, dessen Wesen aus Schatten besteht. Zu beiden Seiten der Domäne bilden Tragamore eine Barriere. Der Spieler ist ein Schüler ohne einen Funken Macht, also zieht er mit Talisman, einer absorbierenden Figur der bedeutungsloseren Vergänglichen. Sie ist verloren, ›geopfert‹, wie wir es nennen. Der Spieler gewinnt dadurch keinen Vorteil, aber er verliert auch nicht viel, denn durch den Zug verändert sich die Domäne, und das Spiel bewegt sich irgendwo anders hin.«
»Aber, Meister«, säuselte Karls Stimme aus der Ecke, »ein starker Spieler hätte mit Totem ziehen können. Ein mächtiger
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