Lichtraum: Roman (German Edition)
schüttelte den Kopf. »Ich habe jemand gesehen, den ich kenne!«, brüllte er, um den Lärm zu übertönen.
Höchstwahrscheinlich beabsichtigten die Flüchtlinge, im Schutz der Dunkelheit den Kanal zu durchwaten, da die Brücken häufig beschossen wurden. Wenn sie es bis auf die andere Seite schafften, hatten sie eine Chance, den schlimmsten Gefechten zu entkommen.
»Nathan, komm sofort wieder zurück, verdammt nochmal!«, schnauzte Kellogg. »Wenn dieses Ding erst einmal abhebt, ist es zu spät!«
»Ich finde allein zurück!«, erwiderte Nathan und lief los in Richtung Kanal. Kellog schrie ihm noch etwas hinterher, aber die Worte gingen im Getöse unter, als die VTOL-Jets die Ambulanz in einem Senkrechtstart hoch über den Boden hoben.
Die Maschine richtete ihre Nase nach Nordwesten, wo der Dritte Kanal lag, und fing an zu beschleunigen.
Seit Peralta die Systeme des Hauptfusionsreaktors zerstört hatte, gab es keine Straßenbeleuchtung mehr. Nathan streifte seine Weste ab und versteckte sie tief in einem Trümmerhaufen.
Er lief an der Ruine des Einkaufszentrums vorbei, wobei er in jeden verschatteten Winkel spähte. Abwechselnd rennend und in zügigem Tempo marschierend, erreichte er nach ein paar Minuten völlig ausgepumpt das Ufer des Ersten Kanals. Jeder Knochen tat ihm weh, und noch nie hatte er sein fortgeschrittenes Alter so unangenehm gespürt wie jetzt.
Nathan überquerte die Straße und blickte den Uferdamm hinunter auf das schwarze Wasser. Die dunklen Umrisse von Leichen drifteten vorbei, getragen von der künstlich erzeugten Tide. Zu beiden Seiten des Kanals hatte sich Eis gebildet, und er spähte angestrengt hinauf und hinunter, bis er einen Pulk aus schattenhaften Gestalten sichtete, die sich, etwa fünfzig Meter entfernt auf dem Pfad am Fuß des Abhangs bewegten.
Nathan rutschte und schlitterte die Steinverkleidung der Uferböschung hinab, bis er drunten auf dem Weg anlangte. Einige der Flüchtlinge waren bereits trotz der Eisschicht und der fürchterlichen Kälte dabei, in das träge dahinfließende Wasser zu waten.
»Hey!«, brüllte er und wedelte mit den Armen, während er auf sie zueilte.
Ein paar Leute drehten sich um und fingen vor Angst an zu schreien; in der Düsternis nahmen sie an, dass er einer von Peraltas Soldaten sein musste. Noch mehr Menschen stürzten sich weiter in das Wasser und begannen hektisch zu schwimmen.
Nathan verlangsamte sein Tempo und hob die Hände. Selbst in dem spärlichen Licht konnte er sehen, wie sich Panik und
Misstrauen in den Gesichtern spiegelte. »Ich gehöre weder zu Peralta noch zu sonst jemand!«, schrie er. »Ich bin bloß auf der Suche nach einer bestimmten Frau. Vielleicht ist sie ja …«
Dann trat er einen Schritt näher heran und sah sie ganz deutlich; eine knochige Frau mit braunem Haar, die Augen stumpf vor Erschöpfung. Aber sie war nicht Ilsa. Nun, da er ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, wunderte er sich, wie er sich so hatte täuschen lassen können.
»Entschuldigung, ich …«
Plötzlich flutete von oben ein gleißendes Licht auf sie herab. Nathan duckte sich instinktiv und schaute den Uferdamm hinauf, wo wie aus dem Nichts ein paar Gestalten erschienen waren, die sich vor den auf einem Rover montierten Bogenlampen als schwarze Silhouetten abhoben. Er hörte, wie einer der Flüchtlinge das Wort terrorista murmelte, doch Nathan wusste, dass diese Neuankömmlinge Soldaten des Konsortiums waren.
Einige der Soldaten flitzten eine Reihe von Stufen hinunter, die auf den Kanalweg führten, ihre Gewehre schussbereit gegen die Schulter gedrückt. Der Rover rückte dichter an den Rand der Böschung heran, während sein stumpfer, mit Instrumenten bestückter Kopf ständig hin und her pendelte und die Umgebung nach möglichen Gefahren scannte. Sein grelles Licht beleuchtete die aufgedunsenen Leiber der Toten in dem schmutzigen Wasser.
Eine Soldatin näherte sich ihnen, schob ihr Visier hoch und zeigte ihr kleines, rundes Gesicht; unter dem schweren, schwarzen Helm lugte eine schmuddelige, blonde Haarsträhne hervor. Karen, erkannte er zu seinem Schreck. Sergeant Karen Salk, seine ehemalige Geliebte.
Sie packte seinen Arm und zog ihn von den Flüchtlingen fort, die endlich begriffen hatten, dass ihnen keine unmittelbare Gefahr drohte. Der restliche Trupp behielt die Waffen dennoch im
Anschlag; terroristas hatten die Angewohnheit, sich zwischen den Leuten zu verstecken, die vor den Kämpfen flohen.
Ein Militärtransporter von
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